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Projekt demokratischer Herbst: Wie wir die Landtagswahlen begleiten werden

von | Aug 9, 2024 | Demokratischer Herbst

Warum “Demokratischer Herbst”?

Im September wird in Sachsen, Brandenburg und Thüringen gewählt. Die rechtsextreme AfD könnte nach den Wahlen in allen drei Bundesländern die stärkste Fraktion stellen, Viele stehen dieser Entwicklung ratlos gegenüber. Deutsche Medien, die zumeist in den “alten” Bundesländern sitzen, versuchen zwar, das einzuordnen, zu erklären und dagegenzuhalten. Gleichzeitig entsteht dabei oft eine gewisse Außensicht auf “Ostdeutsche”, die Teil des Problems statt Teil der Lösung ist. Wir diskutieren intern viel über diese Problematik. Obwohl in unserem Team auch Ostdeutsche arbeiten, ist uns natürlich bewusst, dass wir nicht als “ostdeutsch” wahrgenommen werden. Wir wollen gerade deswegen mit unseren Fähigkeiten und Kapazitäten dazu beitragen, die vielfältige ostdeutsche demokratische Zivilgesellschaft sichtbarer zu machen. Um eben nicht nur über die AfD oder Rechtsextremismus zu reden, starten wir daher mit diesem Beitrag das Projekt “Demokratischer Herbst”.

Im Hintergrund ist einiges passiert, zwei Tools haben wir schon veröffentlicht (siehe unten) und wir werden dieses Projekt auch über die Wahlen hinaus weiterverfolgen. Wir wollen die Chance aber auch nutzen, einige wichtige Informationen hervorzuheben, die unter den teilweise immer gleichen Erklärungsmustern zum Thema “Ostdeutschland” untergehen.

Keine Zeit für Hintergründe? Klicke hier, wenn du direkt zu unseren kommenden Projekten willst!

Zu unseren interaktiven Karten mit zivilgesellschaftlichen Organisationen

Zu unserer Broschüre “10 Fakten gegen rechte Mythen”

Schwäche der etablierten Parteien

Wenn über politische Entwicklungen und Wahlumfragen in ostdeutschen Bundesländern geredet wird, steht dabei oft die scheinbar überraschende Stärke von AfD (und seit neuestem auch BSW) im Fokus. Seltener wird dabei der Umkehrschluss betrachtet, nämlich die Schwäche der etablierten Parteien. Klar, wenn AfD und BSW hohe Prozentwerte holen, dann bleibt ja als Nebeneffekt für die anderen weniger übrig. Doch das verschleiert eine weitere Ursache dieser Wahlergebnisse: Nämlich die tatsächliche Schwäche der übrigen, etablierten Parteien in ostdeutschen Bundesländern. 

Dass das Parteiensystem in den “neuen”, also ostdeutschen Bundesländern anders funktioniert als in den “alten”, ist wenig überraschend und wurde bereits in den 2000er Jahren untersucht. Schon 1998 analysierten Politikwissenschaftler:innen, dass es ein Irrtum wäre zu glauben, das westdeutsche Parteiensystem könne sich einfach so ohne Bruch auf die neuen Bundesländer “ausdehnen”. So stürzte beispielsweise Die LINKE (früher PDS, SED-Nachfolgepartei) als einzige die Wendezeit überstehende “Ostpartei” von über 280.000 Mitgliedern 1990 auf aktuell 52.000 ab, wovon nur noch rund die Hälfte aus den ostdeutschen Bundesländern stammt. 

Große Parteien haben nach 35 Jahren kaum Fuß gefasst

Der Soziologe Steffen Mau ruft dazu auf, zunächst einmal anzuerkennen, dass in Ostdeutschland das alte westdeutsche System der Parteiendemokratie von vielen Menschen skeptisch gesehen wird. Er fordert, andere Arten der Beteiligung ernsthaft in Betracht zu ziehen, wie Bürgerräte. Wir sind nicht in der Position, konkrete politische Handlungsempfehlungen zu bewerten. Was allerdings auch uns auffällt: Das “klassische” Parteiensystem und seine Vertreter:innen fassen offensichtlich in großen Teilen Ostdeutschlands nicht Fuß. Oftmals fühlt es sich so an, als sei für die Parteizentralen von CDU, SPD, Grünen oder FDP das Thema Ostdeutschland ein nerviges, aber schon allein aus PR-Gründen notwendiges Übel, für das man eben eine Lösung finden muss. Auch wenn es nicht so kommuniziert wird, ist Ostdeutschland bei diesen Parteien nicht im Kern verankert, sondern bestenfalls ein mehr schlecht als recht dazugewachsenes Anhängsel.

Diese Leerstelle nutzt die AfD geschickt aus. Ihr gelingt es aktuell als einzige Partei, glaubhaft “ostdeutsch” zu sein. Und ja, wir wissen, dass viele Parteieliten auch hier aus den alten Bundesländern stammen (Höcke, Weidel, Brandner, Boehringer, Gottschalk). Gleichzeitig hat die Partei allerdings mit Tino Chrupalla einen ostdeutschen Parteivorsitzenden – das kann von den 2021 in den Bundestag gewählten Parteien sonst nur die Linke von sich behaupten. Und auch andere einflussreiche Persönlichkeiten der Partei wie Maximilian Krah stammen aus Ostdeutschland oder sind zumindest dort sozialisiert.

Folgen der SED-Diktatur bestehen bis heute

Unterschiede zwischen Ost und West bestehen aber nicht nur angesichts der AfD (auch wenn das in der medialen Berichterstattung manchmal so wirkt). Besonders was Vermögen und vor allem auch Wohneigentum angeht, sind die Unterschiede nach wie vor enorm. Und auch das gesellschaftliche Trauma aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Wende in Ostdeutschland wurde kaum aufgearbeitet. Zwei Drittel der in der Industrie Angestellten verloren damals ihren Job, bis 1996 waren 40% aller Beschäftigten in den ostdeutschen Bundesländern mindestens einmal arbeitslos – Frauen häufiger als Männer. Viele zogen in die “alten” Bundesländer um Arbeit zu finden. Eine große Rolle hat diese Phase der deutschen Geschichte weder in sozialen, noch feministischen oder Migrations-Debatten gespielt.

Noch schwerer messbar sind die gesellschaftlichen Folgen der Wende. Viele Menschen verloren auch die relativ stabile gesellschaftliche Situation, die die DDR-Diktatur ihnen verschaffen hatte. Damit wollen wir keinesfalls die Diktatur relativieren – vielfältiges Infomaterial dazu findet ihr bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Gleichzeitig darf man aber nicht vergessen, dass in der DDR zumindest bis in die 1980er Jahre hinein so etwas wie eine Zivilgesellschaft unabhängig vom Staat kaum existierte. Die Wende 1989 wurde von Historikern genau deshalb auch als “Aufbruch der Zivilgesellschaft” betitelt.

Zivilgesellschaft im Osten: Widerstand gegen Rechtsextreme, Gängelung durch AfD

35 Jahre danach haben sich viele engagierte Menschen in den ostdeutschen Bundesländern zu zivilgesellschaftlichen Initiativen zusammengeschlossen. Doch die Situation für diese Initiativen wird in den letzten Jahren immer schwieriger. Seit die AfD in Kommunen und Landkreisen mehr Stimmanteile erhält, fürchten viele zivilgesellschaftlichen Organisationen gerade außerhalb der Metropolen um ihre finanzielle Sicherheit. Ein Teufelskreis, denn gerade diese Initiativen sind wichtige Zugpferde im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Das zeigen selbst wissenschaftliche Untersuchungen.

Das Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Universität Leipzig hat in einer aktuellen Analyse untersucht, welche Faktoren die Wahlentscheidung für bestimmte Parteien beeinflussen. Neben der vorher bereits bekannten Erkenntnis, dass die AfD in Großstädten schwächer und auf dem Land stärker ist, stach ein interessantes Detail heraus: In katholisch-sorbischen Milieus des ansonsten AfD-starken Landkreises Bautzen konnte die Partei kaum Fuß fassen – obwohl es sich hier ebenfalls um Dörfer, bestenfalls Kleinstädte handelt. Es geht dabei explizit nicht nur darum, dass hier viele Menschen religiös sind; “Die Spezifik der katholisch-sorbischen Gemeinden liegt vermutlich eher in einem historisch tradierten hohen zivilgesellschaftlichen Organisationsgrad und der besonderen Milieubildung.” 

Sprich: Diese Gemeinden leben davon, dass die katholische Kirche hier als Zivilgesellschaft einspringt. Einen ähnlichen Effekt sehen die Wissenschaftler:innen ausgehend von der “lokalen politischen Kultur”. Dort, wo schon NPD und DSU stark waren und Rechtsextreme offenbar tief in der Gesellschaft vernetzt sind, kann auch die AfD stärkere Erfolge feiern.

Eine zentrale Erkenntnis der Forschenden ist: Neben den strukturellen Bedingungen kann “eine aktive, demokratische Zivilgesellschaft […] die Wahl demokratischer Parteien […] positiv beeinflussen.” Und weiter: “[Dem Gefühl des Abgehängtseins] entgegenstehen können – trotz ländlich-peripherer Lage – zivilgesellschaftliches Engagement vor Ort und eine funktionierende öffentliche Daseinsvorsorge.”

Die Wissenschaft schlägt also zivilgesellschaftliches Engagement ganz konkret als Maßnahme gegen das Gefühl der Abgehängtheit und damit rechtsextreme Wahlerfolge vor. Und da kommt unser Projekt ins Spiel.

Was wir vorhaben: Projekt “Demokratischer Herbst”

Gerade wegen der ernsthaften Bedrohung durch einen AfD-Wahlsieg wollen wir in den nächsten Wochen und Monaten einen stärkeren Fokus auf die ostdeutschen Bundesländer legen – insbesondere auf diejenigen, in denen gewählt wird.

Gleichzeitig wollen wir aber vermeiden, auf die AfD zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Stattdessen wollen wir zivilgesellschaftliches Engagement in Ostdeutschland mehr in den Fokus rücken. Wir wollen unsere Reichweite nutzen, um der großen Mehrheit der Menschen, die Rechtsextremismus ablehnt, Möglichkeiten aufzuzeigen, sich auch jenseits von Parteien zu engagieren.

Dazu haben wir zwei Tools für euch entwickelt.

Tool 1: Broschüre “10 Fakten gegen Rechte Mythen”

Zunächst geht jetzt gerade eine Broschüre in den Druck, die im Umgang mit AfD und Rechtsextremismus helfen soll. Es geht uns dabei vor allem darum, dass man in komplizierten Diskussionen überzeugende Argumente schnell zur Hand hat, ohne, dass man sich erst durch Studien wühlen muss.

Die Broschüre, die wir mit dem Leipziger Grafikdesign-Duo “two do” gemeinsam produziert haben, wird in erster Auflage 3.000x ausgedruckt für zivilgesellschaftliche Organisationen zur Verfügung stehen. Zunächst wollen wir uns damit vor allem auf die Bundesländer konzentrieren, in denen im September gewählt wird – aber bei entsprechender Nachfrage kann man natürlich auch nachdrucken. Außerdem gibt es eine digitale Version zum Download hier auf der Website – alles natürlich vollkommen kostenlos.

Tool 2: Orgakarten

Darüber hinaus wollen wir euch aber auch zeigen, welche Möglichkeiten es vor Ort gibt, sich zu engagieren. Wie wir oben gezeigt haben, kann eine aktive, demokratische Zivilgesellschaft entscheidend im Widerstand gegen die rechtsextreme Machtübernahme sein.

Dazu haben wir für jedes der 5 ostdeutschen Bundesländer (sorry Berlin) eine interaktive Karte gebastelt. Auf dieser sind, nach Stadt/Landkreis sortiert, demokratische, zivilgesellschaftliche Organisationen gesammelt. Die Karten sind interaktiv, ihr könnte also mit einem Klick direkt zur Website der jeweiligen Organisation gelangen.

Direkt zu den interaktiven Karten geht’s hier:

Wir wollen mit diesem Projekt einerseits dazu beitragen, dass Menschen sich informieren können, welche Möglichkeiten es gibt, sich zu engagieren. Schaut also gern vorbei, welche Organisationen es in eurer Nähe gibt! Andererseits wollen wir aber auch einen kleinen Beitrag dazu leisten, das Narrativ vom “rechten Osten” zu überwinden. Wir wollen nicht leugnen, dass es große Probleme mit Rechtsextremen gibt. Aber wir wollen gleichzeitig AfD nicht den Gefallen tun, sie als alleinige politische Vertreterin des (ländlichen) ostdeutschen Raums darzustellen. Es ist wichtig, sich diesem AfD-Narrativ nicht hinzugeben, sondern es aktiv zu bekämpfen – eben indem Alternativen aufgezeigt werden.

Euch fallen noch Initiativen ein, die auf jeden Fall auf die Karten gehören aber bisher nicht zu finden sind? Schreibt uns gern an [email protected]!

Artikelreihe “Demokratischer Herbst”

Darüber hinaus haben wir bereits angefangen, Artikel zum Themenkomplex “AfD, Demokratie und Wahlen in Ostdeutschland” in einer neuen Artikelkategorie zu sammeln. Diese findet ihr ab sofort gesammelt unter dem Namen “Demokratischer Herbst“. Damit wollen wir Faktenchecks und sonstige Artikel, die die ostdeutschen Bundesländer und die Wahlen im Herbst betreffen besonders in den Fokus rücken, ohne dass ihr dafür auf unsere Arbeit zu anderen Themen verzichten müsstet.

Zur Projektseite geht es hier:

Also: Teilt fleißig diesen Artikel, schreibt Initiativen in eurer Nähe an, zeigt euren Freund:innen unsere Broschüre, macht euch stark gegen Rechtsextremismus und, falls ihr könnt – geht wählen!