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Nawalny & die 40 Regionen: Wie schnell sich ein Internet-Missverständnis hochschaukelt

von | Aug 24, 2023 | Faktencheck

Am 10. September werden in 40 russischen Regionen Regionalwahlen stattfinden. Der russische Oppositionelle Alexei Nawalny rief aus der Haft heraus seine Twitter-Follower dazu auf, in allen 40 Regionen für oppositionelle Kandidat:innen zu stimmen. Daraufhin warf der Osteuropa-Experte Sumlenny, wohl aufgrund eines Missverständnisses, Nawalny fälschlicherweise vor, er erkenne die völkerrechtswidrige Besetzung ukrainischer Territorien durch Russland an. Dass das nicht stimmt, warum solche Missverständnisse Putin-Gegner gegeneinander aufbringen können und warum Nawalny trotzdem keineswegs nur ein strahlender Held ist, zeigen wir in diesem Artikel.

Regionalwahlen in Russland – was ist das überhaupt?

Auch wenn Russland weiterhin wie schon seit anderthalb Jahren einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt, dabei grausame Kriegsverbrechen begeht und im Demokratieindex von seiner ohnehin schon schlechten Lage aus noch weiter abgerutscht ist, führt das Land weiterhin Wahlen durch. So sind zum Beispiel am 10. September dieses Jahres in einigen der russischen Regionen Wahlen geplant.

Russland ist, ähnlich wie Deutschland, in eine Vielzahl an Gliedstaaten unterteilt (bei uns wären das die Bundesländer). Daher auch der offizielle Name „Russländische Föderation“. Anders als in Deutschland sind diese Gliedstaaten jedoch in mehrere Kategorien unterteilt, die nicht alle gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Russland besteht vielmehr aus 46 Gebieten („Oblast“), 21 Republiken, neun Regionen („Krai“), zwei Städten mit föderalem Rang, einem autonomen Gebiet und vier autonomen Kreisen. Die völkerrechtswidrigen russischen Ansprüche auf Gebiete, die zum Territorium der Ukraine gehören, sind hier nicht einberechnet.

Die Hintergründe dieser asymmetrischen Unterteilung liegen in der Geschichte Russlands. Der Einfluss der einzelnen Regionen unterscheidet sich stark und verändert sich auch mit der Zeit. Putin versucht seit seiner Machtübernahme stärker, Russland zu zentralisieren. Wir müssen die Hintergründe hier leider aussparen, aber wer mehr darüber erfahren will, findet bei der Bundeszentrale für politische Bildung weitere Informationen.

Die Wahlen im September

Im September finden in Russland Regionalwahlen statt. Das heißt, in einigen (nicht allen!) der oben genannten russischen Regionen wird gewählt. Dabei finden offiziell (also aus Sicht Russlands) 26 Gouverneurswahlen statt und 20 Wahlen zu den Regionalparlamenten. Das russische Regime behauptet, dass auch in den besetzten Gebieten der Ukraine Wahlen durchgeführt werden (4/26 Gouverneurswahlen, 4/20 Parlamentswahlen). Da diese Gebiete völkerrechtlich zur Ukraine gehören (und Russland auch de facto gar nicht die Kontrolle über alle Gebiete hat, die es beansprucht), ist das als Kreml-Propaganda einzuordnen. Selbst wenn es dort Wahlen geben sollte, können diese angesichts des vorherrschenden Besatzungszustands und des andauernden Krieges gar nicht demokratischen Grundsätzen entsprechen.

Ob die Wahlen in den Gebieten, die tatsächlich zu Russland gehören, auch nur ansatzweise demokratischen Grundsätzen entsprechen, muss stark angezweifelt werden. Beispielsweise geht das russische Regime gegen unabhängige Wahlbeobachter:innen vor. Das ist hier aber auch gar nicht Thema. Stattdessen geht es um ein Missverständnis, welches sich an den oben erwähnten ukrainischen Gebieten entzündet, in denen das russische Regime nach eigener Aussage auch Regionalwahlen durchführen lassen will.

Ein Tweet, eine Zahl, ein Missverständnis

Der russische Oppositionelle Alexei Nawalny, der vor 3 Jahren Opfer eines Giftanschlags wurde, knapp überlebte und mittlerweile zu insgesamt 19 Jahren Straflager verurteilt worden ist, tweetete folgenden Text:

„Auch wenn es viele überraschen wird, existieren immer noch Wahlen. Am 10. September werden sie in 40 Regionen stattfinden. Darum müssen wir unsere Einstellung zu diesen Wahlen klären und ich erlaube mir selbst, Vorschläge einzubringen.“

Alexei Nawalny auf Twitter, eigene Übersetzung

Darunter teilte er den Link zu einem ausführlicheren Artikel auf seinem Blog, in dem er Wahlempfehlungen abgibt.

Dieser auf den ersten Blick nicht sehr außergewöhnliche Tweet sorgte allerdings für einiges an Verwirrung und Empörung. Besonders stach dabei Osteuropa-Experte Sergej Sumlenny heraus. Er unterstellte Nawalny, dass er mit den „40 Regionen“ neben 36 russischen auch die vier besetzten Regionen in der Ukraine meine. Auch wenn er sich für die Freiheit Nawalnys einsetze, kritisierte er scharf dessen „smart voting“-Strategie, denn diese habe dafür gesorgt, dass zwar scheinbar „oppositionelle“, aber in Wirklichkeit putinfreundliche Parteien an die Macht gekommen seien.

Twitter-Schlammschlacht unter Putin-Gegnern?

Daraufhin reagierte unter anderem der Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow mit scharfer Kritik und verwies auf eine Liste von einem weiteren Nawalny-Mitarbeiter, Iwan Shdanow, in der dieser genau die 40 Regionen gesammelt hatte, in denen Wahlen stattfänden:

Sumlenny gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden und kritisierte wiederum, dass auf dieser 40er-Liste offenbar willkürlich einzelne Wahlen für Parlaments-Mandate ausgenommen wurden, dafür andere Wahlen auf kommunaler Ebene hinzugefügt worden und deutete an, dass diese Liste im Nachhinein konstruiert worden sei, um die Aussage von Nawalny zu verteidigen. Letztlich eskalierte die Diskussion auf Twitter darin, dass sich beide Seiten Unfähigkeit oder Manipulation vorwarfen. Doch die eigentlich entscheidenden Fragen beantworteten sie nicht. Beide Zählweisen haben eine gewisse Plausibilität. Beide lassen aber auch einige Städte, Regionen und Parlamente, in denen gewählt wird, außen vor. Doch das ist eigentlich gar nicht der entscheidende Punkt.

Hätte der russische Oppositionelle Nawalny überhaupt ein Interesse daran, Putin zu unterstützen? Das täte er, indem er implizit die illegal annektierten Gebiete im Osten anerkennt. Mal unabhängig gesehen von den verschiedenen Zählweisen, mit denen man auf 40 kommt, oder vielleicht auch nicht, muss man sich doch, wenn man eine solche Diskussion in der Öffentlichkeit führt, hin und wieder einmal fragen: Was ist eigentlich Kern der Diskussion?

Nawalny – Putingegner oder Nationalist?

Im Februar schrieb Nawalny einen Blogeintrag zur russischen Invasion. In diesem sprach er sich sehr entschieden gegen den Angriffskrieg aus. Nawalny benannte und kritisierte Kriegsverbrechen und solidarisierte sich mit der Ukraine. Andererseits hatte Nawalny sich 2014 nicht eindeutig gegen die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel Krim durch Putins Russland gestellt. Um das Thema Krim drückt sich Nawalny seit Jahren eher herum. Noch 2017 war sein „höchstes Angebot“, ein weiteres Referendum auf der Halbinsel Krim durchzuführen. Dass er im oben genannte Blogeintrag bekräftigt, die ukrainischen Grenzen von 1991 (mit der Krim!) hätten Bestand, mag Zeichen einer Sinneswandlung sein. Dennoch ist es nachvollziehbar, dass gerade die vom Krieg gezeichneten Ukrainer:innen dem nicht so einfach vertrauen wollen.

Je weiter man in Nawalnys Vergangenheit forscht, desto mehr problematische Aspekte entdeckt man. Schon 2011 hat die taz darauf hingewiesen, dass Nawalny neben scharfer Kritik an der Korruption auch Nationalismus in seine Reden einbaut. Er unterstützte 2008 Putins Krieg gegen Georgien und nahm noch mindestens bis Anfang der 2010er Jahre am rechtsextremen „Russischen Marsch“ Teil. In den letzten Jahren wurden Nawalnys Äußerungen allerdings immer gemäßigter. Er scheint sich glaubhaft von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit distanziert zu haben.

Nawalny ist also kein tadelloser Hollywood-Held. Er hat eine nationalistische Vergangenheit mit Kontakten nach Rechtsaußen. Diese Aspekte sollte man nicht übersehen, wenn man ihn (ebenso berechtigterweise!) für seinen mutigen Kampf gegen die russische Autokratie lobt. Dass Nawalny in Freiheit gehört, ist unbestritten. Seine politischen Ziele und Einstellungen sollten dagegen nicht unkritisch betrachtet werden.

Fazit: Nawalny-Tweet ist kein Hill to die on

Gleichzeitig muss man sich aber auch fragen, ob mit solchen Twitter-Schlammschlachten, in denen sich am Ende Wikipedia-Artikel und die angebliche Unfähigkeit zum Recherchieren an den Kopf geworfen werden, wirklich zielführend sind. Denn ein entscheidendes Ziel eint Nawalny und die Unterstützer:innen der Ukraine: Das Ende des illegalen russischen Angriffskrieges und das Ende des autoritären Putin-Regimes.

Es mag sein, dass Nawalny sich schlicht verrechnet hat oder bewusst eine runde Zahl an Regionen nennen wollte und darum die für Sumlenny schwer nachvollziehbare Herangehensweise gewählt hat. Genauso gut kann es sein, dass Nawalny diese Herangehensweise ehrlich für die korrekte Art zu zählen hielt. Vielleicht ist er lediglich aus einer anderen Perspektive an die Zählweise herangegangen. Fakt ist: Nawalny ist ein ausgesprochener Gegner des russischen Angriffskriegs. Der Vorwurf, dass er diesen hier unterschwellig legitimieren wolle, ist absurd.

Kann man, angesichts solch einer großen Bedrohung nicht einfach einmal einsehen, dass man sich eben verzählt hat oder dass man einer anderen Interpretation gefolgt ist als die Gegenseite? Es ist richtig, dass sowohl der inhaftierte Oppositionelle im Straflager als auch der ukrainische Osteuropa-Experte, der der russischen Aggression auch digital keinen Millimeter Raum lassen will, sich nicht so leicht in ihren Ansichten beirren lassen. Auf dem Schlachtfeld ist es sowieso die richtige Herangehensweise, kompromisslos gegen die russischen Invasionstruppen vorzugehen. Aber ein wenig Einsicht unter Verbündeten kann manchmal auch nicht schaden – ganz im Gegenteil. Kraftzehrende Streitereien über Kleinigkeiten helfen nur der Kreml-Propaganda.

Nawalny tritt schon länger als Putin-Gegner auf. Gerade Politiker:innen der Partei DIE LINKE fielen schon 2020, nach dem Giftanschlag auf Nawalny, damit auf, Verschwörungsmythen und Whataboutismen anzudeuten. Wir berichteten über den Fall schon vor der russischen Invasion in die Ukraine. Mehr dazu:

Artikelbild: Uncredited/Moscow City Court/AP/dpa