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Merz lügt über Migranten: Diese Länder nehmen am meisten auf

von | Sep 10, 2024 | Faktencheck

Im erfolglosen Versuch, dem AfD-Rechtsruck hinterherzulaufen, sind einflussreiche Teile der CDU schon so weit gekommen, dass sie sich Fakten schlichtweg ausdenken. CDU-Parteivorsitzender Friedrich Merz hat auf einer Bundespressekonferenz, mal wieder, bezüglich Geflüchteter aus Syrien und Afghanistan schlichtweg gelogen. Deutschland ist zwar ein wichtiges Aufnahmeland für Schutzsuchende aus diesen Ländern, es steht aber, anders als Merz behauptet, weltweit nicht an erster Stelle. Das weiß der CDU-Chef anscheinend nicht. 

Diese Länder nehmen wirklich am meisten Flüchtlinge auf

Merz hat schon häufiger bewiesen, dass er gern Lügen über Migranten verbreitet (hier, hier). Auf einer Bundespressekonferenz Ende August behauptete er nun, Deutschland habe “proportional zu seiner Größe” die meisten Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan aufgenommen. Merz hat uns nun leider nicht verraten, was er genau mit “proportional zu seiner Größe” meint. Es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, das zu interpretieren und zu berechnen. Das Problem für den CDU-Chef: In KEINER dieser Varianten stimmt seine Aussage. Wir schauen drauf.

In seiner Ignoranz verschweigt Merz, was die signifikantesten Punkte sind, die man über Migration wissen sollte, wenn man schon einen internationalen Vergleich zieht. Nämlich aufgenommene Schutzsuchende in absoluten Zahlen und Binnenmigration. Weltweit gesehen liegt Deutschland als Aufnahmeland von Flüchtlingen und anderen Schutzbedürftigen auf Platz vier mit 2,6 Millionen aufgenommenen Schutzsuchenden, hinter Iran, der Türkei und Kolumbien (Stand Ende 2023). 

Screenshot statista.com

Im Iran finden vor allem Afghan:innen Schutz, in der Türkei vor allem Syrer:innen und in Kolumbien vor allem Venezolaner:innen. Du siehst also: die Nachbarländer von Staaten, in denen Krieg, Hunger und prekäre Verhältnisse herrschen, sind diejenigen Länder, die oftmals einen Großteil von internationalen Flüchtlingen aufnehmen. 69% der weltweit Schutzsuchenden suchen im Nachbarland Zuflucht (UNHCR Global Trends Report S. 21). Ergibt ja auch Sinn: Flüchten ist gefährlich und kostet Geld – kurze Distanzen sind oftmals schlichtweg die machbarsten Optionen.

Übrigens: Da es auch Schutzsuchende gibt, die nicht als Flüchtlinge anerkannt sind, kommt es manchmal zu voneinander abweichenden Statistiken. Wenn du mehr darüber lesen willst, kannst du bei Mediendienst Integration nachschauen. 

In absoluten Zahlen hat Deutschland also durchaus eine beträchtliche Anzahl an Geflüchteten aufgenommen – allerdings nicht die meisten weltweit. Und da haben wir noch nicht einmal über einen anderen wichtigen Aspekt gesprochen, den Merz auf der Pressekonferenz verschweigt: die Binnenmigration. Also Fluchtbewegungen, die innerhalb der Grenzen eines Staates stattfinden.

Die meisten Syrer fliehen innerhalb Syriens

Nehmen wir das Beispiel Syrien. Mehr als 7 Millionen Syrer:innen leben als Binnenflüchtlinge in Syrien. Sie wurden also aus ihrer Heimatregion vertrieben und suchen Schutz in anderen Regionen des Landes. Weitere 5 Millionen flohen über die Landesgrenzen hinweg, die meisten in die Türkei. Aber auch andere Nachbarländer wie Libanon, Jordanien und Ägypten sind wichtige Aufnahmeländer. Nach wie vor ist Syrien die in Zahlen größte Vertreibungskrise der Welt.

Syriens Binnenflüchtlinge sind aber kein Einzelfall. Wie du in der Grafik unten sehen kannst, gibt es weit mehr Binnenflüchtlinge als internationale Flüchtlinge. Sudan ist dabei das Land, in dem mit 9,1 Millionen (UNHCR Global Trends Report S. 25) die meisten Binnenflüchtlinge leben, meist unter den prekärsten Bedingungen. Neben Syrien leben auch in Kolumbien 6,9 Millionen Binnenflüchtlinge (UNHCR Global Trends Report S. 25). Fakten, die wir in Europa oftmals nicht auf dem Schirm haben, weil Binnenflüchtlinge sehr weit weg von unserer eigenen Realität sind. 

Screenshot UNHCR.org (S. 2)

Es gibt auch noch Länder außerhalb Europas

Merz hat also glatt mal zwei der wichtigsten Aspekte zum Thema Migration außen vor gelassen. Doch selbst wenn wir ihm den Gefallen tun und Migration “proportional zur Größe” berechnen, hören die Lügen nicht auf. Sein Weltbild spielt sich, so scheint es, innerhalb von Europa ab und nicht darüber hinaus. Bei einer Bundespressekonferenz Ende August (bezugnehmend auf das Solingen-Attentat) log er in einem Satz gleich mehrfach (Min. 49’40): 

“Es gibt kein zweites Land auf der Welt, das auch nur annähernd – proportional zu seiner Größe – eine solch große Zahl von Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan aufgenommen hat wie Deutschland.”

Alles an dieser Aussage ist falsch, wenn er mit der “Welt” die gesamte Welt meint und nicht nur Europa (wovon man ja wohl ausgehen könnte und selbst nur auf Europa bezogen, wäre seine Aussage teilweise falsch). Weil er mit “Größe” offen lässt, ob er Einwohnerzahl oder Fläche meint, werfen wir einen Blick auf beide Varianten.

Meint er die Einwohnerzahl, liegt Deutschland nur auf Platz sieben der Aufnahmeländer mit den meisten Geflüchteten und Asylbewerbern aus Syrien und Afghanistan, mit 12,7 Personen pro 1.000 Einwohner. Zum Vergleich: Im Libanon sind es 146,6 Personen. Und selbst in Europa liegen, gerechnet auf die Einwohnerzahl, Zypern und Österreich vor Deutschland. Im Libanon leben übrigens 5,5 Millionen Menschen und das Land kämpft seit Jahren mit wirtschaftlichen Krisen – dennoch hat es 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Sogar in absoluten Zahlen mehr als Deutschland.  

Screenshot tagesschau.de

Und auch, wenn man Flüchtlinge aus Syrien oder aus Afghanistan getrennt betrachtet, stünde Deutschland nicht an erster Stelle, wie unsere Kolleg:innen von Correctiv zeigen

Merz lag so oder so falsch

Okay, fairnesshalber könnten wir jetzt sagen, vielleicht meinte er ja nicht die Einwohnerzahl, sondern die Fläche. Ehrlicherweise würde das wenig Sinn ergeben, doch selbst dann bliebe seine Aussage falsch. In Deutschland leben 3.015,5 Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien pro 1.000 Quadratkilometer. Deutschland liegt damit auf Platz 4, hinter der Türkei, Jordanien und weit hinter dem Libanon. 

Screenshot tagesschau.de

Merz hat sich also in beiden Variablen um einige Plätze vertan. Ein Zufall? Es ist zumindest nicht das erste Mal, dass er Lügen auf Kosten von Schutzsuchenden verbreitet.

Übrigens, auf die Aufnahme aller Schutzsuchenden (nicht nur aus Syrien und Afghanistan) bezogen, ist Deutschland innerhalb Europas auch nicht das Land, das pro Einwohnerzahl gerechnet am meisten Menschen aufnimmt. Wir liegen hinter Zypern und Tschechien auf Platz 3. 

Screenshot statista.com

Warum sich Merz derart auf Syrien und Afghanistan als Herkunftsländer eingeschossen hat, ist auch nicht wirklich verständlich. Immerhin kamen 2023 vor allem Menschen aus der Ukraine (276.047), Rumänien (189.321) und der Türkei (126.487) in Deutschland an. Syrer:innen lagen auf Platz 5, Afghan:innen auf Platz 8.

Deutschland wirtschaftsstärkstes Land unter den Top Aufnahmeländern

Wenn du bis hierher gelesen hast, siehst du: Es kommen bei weitem nicht alle Flüchtlinge nach Deutschland, wie das in rechten (und zunehmend auch konservativen) Kreisen gerne behauptet wird. Dennoch ist Platz 4 unter den Top Aufnahmeländern weltweit natürlich eine Hausnummer, das wollen wir an dieser Stelle auch überhaupt nicht kleinreden. Migration im großen Stil geht einher mit ernstzunehmenden Herausforderungen für den Staat und vor allem für die Kommunen bezüglich der Unterbringung und Integration der Ankommenden. Diese kann man auch ansprechen, ohne dabei maßlos zu übertreiben wie Merz. Und auch da läuft in letzter Zeit einiges besser – Fakten, die in der medialen Berichterstattung leider untergehen:

Ein weiterer, sehr wichtiger Punkt ist die Wirtschaftskraft eines Aufnahmelandes. Diese können wir aus simplen Statistiken über das Ranking von Aufnahmeländern natürlich nicht herauslesen. Doch es ist eine der zentralen Variablen, mit denen wir verstehen können, in welchem Umfang und Ausmaß ein Land Schutzsuchende ordentlich unterbringen und versorgen kann. 

Wirtschaftskraft wird häufig anhand des Bruttoinlandsprodukts eines Landes gemessen. Um hier zwischen Ländern vergleichen zu können, nehmen wir das BIP pro Kopf. Der Vergleich zeigt, dass Deutschland eindeutig an der Spitze der Top Aufnahmeländer liegt, mit 51.384 Dollar pro Kopf im Jahr 2023. Wir liegen damit auf Platz 20 im Ranking der “reichsten” Länder der Welt. Aufnahmeland Nummer eins, Iran, liegt bei geschätzt rund 4.662,5 US-Dollar pro Kopf 2023. Deutschland hat somit ein mehr als 11 mal größeres BIP pro Kopf als der Iran. Auch die Türkei und Kolumbien liegen mit jeweils rund 12.849 US-Dollar und rund 6.971,7 US-Dollar im Jahr 2023 weit hinter Deutschland. 

Obwohl Iran, die Türkei und Kolumbien eine weitaus geringere Wirtschaftskraft haben, ergo schlichtweg weniger Ressourcen, um Schutzsuchende versorgen zu können, nehmen sie sogar in absoluten Zahlen mehr Menschen auf als Deutschland.
Dass wirtschaftsschwache Länder jedoch diejenigen sind, die weltweit gesehen die meisten Flüchtlinge aufnehmen, ist Fakt. 80% aller Flüchtlinge weltweit wurden von Ländern aufgenommen, die zusammen weniger als 20% des weltweiten Einkommens produzieren (UNHCR Global Trends Report S. 22).

Wie verhindert man islamistische Radikalisierung?

Viele Merz-Forderungen sind populistisch und rechtlich entweder nicht umsetzbar oder mindestens zweifelhaft. Darunter fallen zum Beispiel der Aufnahmestopp (obwohl mittlerweile relativiert) für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan, die nationale Notlage, sowie Zurückweisungen an den Grenzen. Dabei ist Friedrich Merz Jurist. Er trägt damit dazu bei, dass wir uns nach dem islamistisch motivierten Attentat von Solingen sowohl in der Debatte um Islamismusbekämpfung als auch in der Debatte um Migration nur noch im Kreis drehen. Ein sinnvoller und konkreter Vorschlag, wie Deutschland effektiv Islamismus bekämpfen kann, kam vom CDU-Vorsitzenden nicht. 

Dabei gäbe es Lösungsansätze. Beispielsweise eine zeitgemäße Bildungsoffensive gegen islamistischen Extremismus und eine konsequente Bekämpfung islamistischer Online-Radikalisierung. Aber auch der Kampf gegen Rassismus sowie gelungene Integration können Mittel sein, um zu verhindern, dass sich Menschen radikalisieren. Ebenfalls müssen bereits existierende sowie zukünftige Präventionsprojekte endlich ohne Finanzierungssorgen umgesetzt werden können. 

Fazit: Die Merz-Forderungen spielen Extremisten in die Hände

Natürlich können das nicht die einzigen Strategien nach Solingen sein – es wäre aber zumindest ein Anfang. Lügen gegen Schutzsuchende, Abschiebeforderungen und Panikmache durch Gerede über eine nationale Notlage sind es definitiv nicht. Die Rückabwicklung der durch die Ampel erleichterten Einbürgerungen und die Rücknahme doppelter Staatsbürgerschaften werden uns auch nicht weiterbringen. Wie Islamwissenschaftler Dr. Yunus Yaldiz sagt:

“Diese politische Rhetorik ist grade mit Blick auf Radikalisierung fatal. Rufe nach Entzügen der Staatsbürgerschaft – oder auch Ausschlüsse durch Bekenntnis-Anforderungen – führen dazu, dass Menschen mit Migrationshintergrund und Muslime sich in Deutschland immer wieder in Frage gestellt sehen. Das bewirkt, dass sie sich vom Staat nicht repräsentiert fühlen. Und macht es wahrscheinlicher, dass sie von anderen – möglicherweise eben auch extremistischen Akteuren – angesprochen werden können und für deren Propaganda anfälliger werden.”

Eindeutig klar ist: Islamistische Gesinnung ist nicht davon abhängig, welche Nationalität im Pass steht. Islamismus ist ein komplexes Problem, das nicht mit einfachen Antworten und Symbolpolitik behoben werden kann. Die politische Rhetorik des CDU-Chefs ist nicht nur weit weg von sinnvollen Lösungsansätzen – sie spielt den Extremisten sogar noch in die Hände.

Artikelbild: Screenshot youtube.com