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Die sicherste EM aller Zeiten? – so sehr lagen Reichelt & Co. daneben

von | Jul 18, 2024 | Faktencheck

Die EM 2024 ging am Sonntag zu Ende, Spanien wurde Europameister. Es war trotz des frühen Ausscheidens der deutschen Mannschaft gegen den späteren Meister, für das man sich durchaus nicht schämen muss, für viele eine schöne Zeit. Die EM sorgte für zahlreiche Szenen der Freundschaft, Toleranz und Vielfalt. Ein best of der schönsten Szenen haben wir hier gesammelt:

@volksverpetzer

Rechte wollen uns die EM mit ihrem Rassismus miesmachen, das ging nicht auf, wie dieses Video zeigt. Deutschland zeigt, wie Vielfalt und Toleranz geht – wie Menschen aus allen Ländern friedlich zusammen feiern und tanzen können! #em #deutschland

♬ Originalton – volksverpetzer

Natürlich zeigten sich nicht wenige Fans auch von ihrer hässlichen Seite: Allein bis zum 24. Juni wurden dutzende Fälle von Rechtsextremismus verzeichnet. Insgesamt 44 Propagandadelikte und 16 Fälle von Volksverhetzung, Volksverpetzer berichtete. Das Dunkelfeld war wahrscheinlich deutlich größer.

Und ein weiteres Problem darf auch nicht unter den Tisch fallen: Regelmäßig steigen während Fußball-Turnieren die Vorfälle von häuslicher Gewalt, die EM 2024 war ersten Zahlen nach zu urteilen leider auch keine Ausnahme. Neben rechtsextremen Gewaltausbrüchen sorgt also auch fortdauernde strukturelle Frauenfeindlichkeit dafür, dass diese EM eben nicht für alle Menschen ein sorgenloses “Sommermärchen” werden kann.

Die EM 2024 war viel sicherer als die WM 2006

Ob es trotz alldem die “sicherste EM aller Zeiten” war, wie wir augenzwinkernd im Titel beschrieben haben, lässt sich natürlich nicht seriös abschließend beantworten. Die letzte EM fand 2021 in verschiedenen Ländern und aufgrund der Corona-Pandemie verschoben statt. Die EM 2016 in Frankreich hatte 1550 Festnahmen und Ausschreitungen, ist aber zeitlich und örtlich kaum zu vergleichen. Und Turniere davor hatten auch nur 16 Mannschaften und weniger Spiele, alles nicht vergleichbar.

Ein halbwegs machbarer Vergleich ist der zur WM 2006 in Deutschland, wie ihn zuerst Julis Betschka auf Twitter machte – gleiches Land, einigermaßen gleich viele Spiele (64 vs. 51). 2006 gab es “7.212 Straftaten, rund 9.000 – teilweise vorläufige – Festnahmen und rund 870 Verletzte im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft”. Zum Vergleich: 2024 gab es “2340 Straftaten mit EM-Bezug. Darunter seien etwa 700 Körperverletzungsdelikte, rund 120 Diebstähle und ungefähr 200 Fälle von Hausfriedensbruch gewesen. Es habe 140 Gewaltdelikte gegen Polizisten gegeben. Die Polizei habe rund 170 Festnahmen, etwa 320 Gewahrsamnahmen und fast 1000 Ansprachen von Gefährdern vorgenommen.”

Ob auch das irgendwie vergleichbar sei, sei jetzt einfach mal dahin gestellt. Was es definitiv aber nicht war: “Die blutigste EM aller Zeiten”.

Realität widerlegt rechte Lügen: Die doch nicht so “blutige” EM

Das wollten uns nämlich die ganze Zeit rechtsextreme Propagandisten weismachen. Das inzwischen verbotene, gesichert rechtsextreme Hetz-Blatt Compact behauptete das zum Beispiel.

Es ist eine Propaganda, die sehr im Interesse der verfassungsfeindlichen und rechtsextremen Kräfte im Lande ist: Uns einzureden, dass alles immer schlimmer würde, immer gefährlicher, immer “blutiger” – und natürlich, dass “die Ausländer” schuld seien.

Bestimmt nur zufällig hat auch exakt das gleiche Julian Reichelt mit seinem berüchtigten Rechtsaußen-Portal NIUS behauptet.

Der auch vielfach vor Gericht entlarvte Lügner Reichelt wollte das gleiche Märchen erzählen und machte eine Prognose, die offensichtlich nicht eintraf. Dabei versuchte er noch so verzweifelt, jeden einzelnen Vorfall irgendwie auszuschlachten. So zum Beispiel eine Fan-Schlägerei in Gelsenkirchen, in denen weder Vermummte noch Albaner zu sehen waren, was Reichelt beides behauptet hatte. Und so “schwer” war die Ausschreitung am Ende vergleichsweise auch gar nicht.

Reichelt vs. Wahrheit

In den Tagen zuvor hatte sich Reichelt bereits alle Mühe gegeben, das EM-Geschehen übersichtlich in zwei seiner Lieblingserzählungen einzubetten: Dass die Regierung (Nancy Faeser!) jede Kontrolle über die Sicherheit im Land verloren habe. Und dass vor allem eingewanderte Menschen gefährlich seien. Die gleiche Propaganda, die jetzt teils sogar verbotene, rechtsextreme Medien verbreitet haben.

Annika Schneider zerlegte Reichelts Märchen schon Ende Juni bei Übermedien exzellent, aber hier einige Beispiele. Ein Beispiel ist ein Angriff auf der Hamburger Reeperbahn, den Reichelt als „blutige EM-Gewalt“ darstellte. Tatsächlich handelte es sich um einen Vorfall ohne Fußballbezug, bei dem ein mutmaßlich psychisch kranker Mann mit einem Schieferhammer Passanten bedrohte. Reichelt machte daraus eine Tat eines „Axt-Angreifers“, der beim „Fan-Marsch der Holländer“ stattgefunden haben sollte, welcher da aber dummerweise (oder für die Fans: glücklicherweise) bereits vorbei war. Die Oberstaatsanwältin betonte, dass kein Zusammenhang mit organisierten Fußballgewalttaten bestand. Verletzte gab es – abgesehen vom Mann selbst – keine.

Weitere von Reichelt aufgezählte Vorfälle, wie Schlägereien und Überfälle, hatten ebenfalls keine Verbindung zur EM. In Berlin-Moabit und Ulm etwa wurde Gewalt registriert, jedoch ohne Fußballkontext. Viele der aufgeführten Vorfälle (Bad Saulgau, Primasens, Zweibrücken) beinhalteten keine ernsthaften Verletzungen oder waren nicht „blutig“, wie von Reichelt behauptet. Auch ein Fall aus Ingolstadt hat nichts mit Fußball zu tun, als ein Afghane einen anderen Afghanen mit einem Messer schwer verletzte. Und du ahnst es schon: Reichelt erwähnt natürlich nur die Nationalität des Täters, nicht des Opfers.

Reichelts rechte Hetze steht ziemlich blank da

Wie Annika Schneider über Reichelts damalige Bilanz feststellte, blieben gerade mal zwei echte Gewaltvorfälle mit EM-Bezug übrig, die jedoch nicht auf Fan-Meilen, in Stadien oder beim Public Viewing stattfanden. Einer ereignete sich auf einer privaten EM-Party, keiner hatte mit Hooligans zu tun. Schneider schrieb: “Womöglich ist nicht „die EM-Gewalt“ außer Kontrolle, sondern einfach Julian Reichelt?”

Falls du also diese rechte Propaganda – bei Compact, Reichelts NIUS oder sonst irgendwo – gesehen haben solltest und vielleicht wirklich den Eindruck hattest, dass irgendetwas “schlimm” oder gar “schlimmer” geworden ist, haben die dich halt ganz gehörig übers Ohr gehauen. Klar, dass die Polizei sich gern selbst gute Arbeit bescheinigt, aber die ist extrem zufrieden, spricht von wenigen Vorfällen und zieht ein positives Fazit. Noch ein Argument gegen Reichelts Hetze.

Wie wir gesehen haben, gab es 2006 ja auch deutlich mehr Vorfälle. Übrigens ein Jahr mit 6,3 Millionen erfassten Straftaten und 2,28 Millionen Tatverdächtigen. 2023 gab es weniger: 5,9 Millionen Straftaten und 2,24 Millionen Tatverdächtige – und das nach einem Anstieg zu den sichersten Jahren seit der Wiedervereinigung zwischen 2017 und 2022.

Rechte wollen, dass du Angst hast, damit sie dich kontrollieren können

Und hier liegt der Punkt hinter dieser rechten Propaganda. Die dahinterliegende Botschaft ist immer die gleiche: Es wird alles immer mehr, immer schlimmer und Ausländer seien schuld. Es ist fundamental eine Lüge. Dazu lügen Demagogen wie Reichelt pausenlos, wie wir gesehen haben. Einzelfälle werden instrumentalisiert, aus dem Kontext gerissen, übertrieben, wichtige Details verschwiegen und ein Märchen erzählt, das Rassismus und Misstrauen gegenüber Regierung und Staat schüren soll.

Die EM 2024 war vielleicht wirklich sogar die “sicherste” EM, sie war auf jeden Fall ziemlich sicher. Und trotz natürlich echter, hässlicher Fälle – und sehr problematischer Tatsachen, wie die, dass häusliche Gewalt während der EM zunahm – für die meisten eine schöne und friedliche Zeit. Wer aber Propagandisten wie Reichelt & Co. zuhört, dem wird es schwerfallen, die Realität hinter den ganzen Lügen zu sehen. Die Desinformation zur EM ist nur ein Beispiel von vielen. Deshalb: Glaubt diesen Leuten kein Wort, blockt sie, warnt eure Freunde und Familie, teilt lieber Aufklärung wie bei Übermeiden. Oder gerne auch diesen Artikel.

Teile des Artikels wurden mit maschineller Hilfe erstellt.

Artikelbild: canva.com, eigener Screenshot + Bearbeitung Volksverpetzer