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Lagebild Antisemitismus: Die Situation nach dem 7. Oktober

von | Jun 17, 2024 | Analyse

Dieser Text erschien zuerst bei Belltower News

Seit dem tödlichsten Angriff auf jüdisches Leben seit der Shoah am 7. Oktober erreicht der offene Antisemitismus auch in Deutschland eine beispiellose Qualität. Dabei nehmen die Berührungsängste zwischen islamistischen, antiimperialistischen und sich selbst als progressiv verstehenden Milieus ab. Im Zuge dessen wird Islamismus verharmlost und israelbezogener Antisemitismus verbreitet. Es kommt zu einer folgenschweren Radikalisierung, die insbesondere eine Bedrohung für Jüdinnen und Juden ist. Zu diesem Ergebnis kommt das Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus, das die Amadeu Antonio Stiftung Anfang des Monats in der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt hat.

Die erschreckenden Entwicklungen im Lagebild

1. Für Jüdinnen*Juden ist die Lage seit dem 7. Oktober katastrophal, auch in der Diaspora

Die sicheren Räume werden weniger und die Bedrohungslage ist dramatisch. Israelbezogener Antisemitismus greift um sich, getragen von einer Allianz aus Islamismus und Antiimperialismus.

2. Die antiimperialistische Linke erneuert im Kampf gegen den Staat Israel ihre altbewährte Allianz mit Islamist*innen

In den Auseinandersetzungen um den Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 fand eine erneute Fusionierung des antiimperialistischen mit dem islamistischen Antizionismus statt. Gruppierungen aus beiden Lagern stehen Seite an Seite, ihre Demosprüche fließen ineinander.

3. Rechtsextreme instrumentalisieren den Kampf gegen Antisemitismus und Israelhass, um ihren Rassismus offen überall platzieren zu können

Die Reaktionen nach dem 7. Oktober 2023 haben einmal mehr gezeigt, dass Teile der extremen Rechten ein instrumentelles Verhältnis zu Jüdinnen*Juden und zur Feindschaft ihnen gegenüber haben. AfD & Co. nutzen die Verherrlichung des Hamas-Terrors als Anlass, um Rassismus zu verbreiten.

4. Israelhass wirkt identitätsstiftend

Die Rede von und die Forderung nach bedingungsloser Solidarität mit Palästina führt immer wieder zu israelbezogenem Antisemitismus und bedeutet schließlich auch die Unterstützung palästinensischer Terrororganisationen wie Hamas und PFLP, was eine Gefahr für die Demokratie darstellt. Sie bietet eine Gelegenheit, sich über Trennendes hinweg eine gemeinsame Identität zu konstruieren.

5. Soziale Medien spielen in der Allianzbildung eine entscheidende Rolle

Die Gruppierungen und Netzwerke der antiimperialis­tischen Linken und des Islamismus sind in den sozialen Medien sehr aktiv. Einige heizen, durch manipulatives Framing und Desinformation, die Stimmung gegen Jüdinnen*Juden und den Staat Israel an. Gerade anti­zionistische Influencer*innen nutzen die Dynamik, um Hetze zu verbreiten.

Islamismus und Antisemitismus seit dem 7. Oktober

Der Tag, an dem palästinensische Terroristen unter Führung der Hamas rund 1.200 Menschen ermordeten und 250 als Geiseln nach Gaza verschleppten, wird von diversen islamistischen oder antiimperialistischen Gruppierungen verharmlost und verherrlicht. Seitdem werden global immer häufiger jüdische und als „zionistisch“ identifizierte Einrichtungen und Personen als Feinde markiert und angegriffen. Kultureinrichtungen und Geschäfte werden mit roten Dreiecken beschmiert, einem Symbol der islamistischen Hamas. Demonstrationen fordern seit Wochen eine globale Intifada. Was lange ein eindeutig islamistischer Aufruf zum Terror und zur Gewalt war, wurde zur scheinbar legitimen Forderung in aktivistischen Milieus. Selbst im Rahmen von Universitäts-Besetzungen werden mittlerweile islamistische Graffiti gesprüht.

„Der Plan der Hamas und ihrer Unterstützerinnen ist aufgegangen“, erklärt Tahera Ameer, Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung. „Wir reden nicht mehr über den 7. Oktober, die Gewalt, die Geiseln, den globalen Antisemitismus. Stattdessen trendet Israelhass im Namen des Eintretens für Menschenrechte.“ Das hat Konsequenzen, so Ameer: „Unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Palästina-Solidarität werden islamistische Parolen salonfähig gemacht und die Ächtung von Islamismus erodiert. Jüdinnen und Juden verstecken ihre Identität aus Sorge um ihre Sicherheit!“

Enthemmung antisemitischer Parolen in Gewalt

Dieser alarmierende Trend zeigte sich schon eine Woche nach dem 7. Oktober bei einer Demonstration auf dem Berliner Potsdamer Platz. Antiisraelische Demonstrant*innen skandierten Hamas-Parolen auf Arabisch, es kam zu gewaltvollen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Später wurde gegen die Scheibe eines benachbarten jüdischen Restaurants getreten und gespuckt. Berlinweit kam es am selben Abend zu aufgemalten Davidsternen und israelfeindlichen Parolen vor Wohnhäusern. Seither wurden immer wieder Jüdinnen und Juden auch körperlich angegriffen. Die Enthemmung antisemitischer Parolen mündet letztendlich in Gewalt.

Insbesondere Gruppen aus dem antiimperialistischen Spektrum fungieren als Steigbügelhalter für Islamismus und Terrorverherrlichung, sie nehmen eine gefährliche Scharnierfunktion ein. Das zeigte sich exemplarisch beim sogenannten „Palästina-Kongress“ in Berlin, der vom 12. bis 14. April stattfinden sollte, aber von der Polizei kurz nach Beginn aufgelöst wurde. Der Kongress wurde von antiimperialistischen Gruppierungen beworben und organisiert, sprechen sollten Personen, die der Hamas oder der PFLP – eine weitere Terrorgruppe, die am Anschlag vom 7. Oktober beteiligt waren.

Amadeu Antonio Stiftung warnt vor Antisemitismus-Querfront

Die Amadeu Antonio Stiftung warnt vor dem Schulterschluss zwischen islamistischen und antiimperialistischen Akteuren, die in ihrer antizionistischen Ideologie vereint sind. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass diese Allianzen zu blankem Antisemitismus führen. Das stellt seit Monaten eine bedrohliche und gefährliche Situation für Jüdinnen und Juden in Deutschland dar, die droht, auf kurz oder lang in Terror umzuschlagen.

Für Ariel Elbert, Vorstand von Keshet Deutschland, einem queer-jüdischen Verein, ist die Bedrohungslage seit dem 7. Oktober zum bitteren Alltag geworden:

„Für Jüdinnen*Juden ist die Lage seit dem 7. Oktober desolat. Mit dem Anstieg von Antisemitismus in der Gesellschaft vermeiden immer mehr Jüdinnen*Juden öffentliche Räume. Straßen und Orte, an denen Hamas-Slogans prangen, sind eine klare Drohung gegen jüdisches Leben – und sie wird verstanden.“

Im Lagebild der Amadeu Antonio Stiftung berichten auch die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci und der Duisburger Pädagoge Burak Yilmaz von den Radikalisierungsprozessen, die sie in ihrer Arbeit erleben. Balci sagt im Interview: „Jahrzehntelang wurde das Problem nicht nur verschlafen, sondern ignoriert. Es gab eine Gleichgültigkeit gegenüber diesem Erstarken von Antisemitismus im Alltag.“ Yilmaz fordert mehr Investitionen in Bildung und pädagogische Angebote, die längerfristig angedacht sind und sich auch an Eltern richten:

„Wir müssen diese Gefahr endlich ernst nehmen. Aber stattdessen fördert man gerne muslimische Bewegungen, die den Muslimbrüdern inhaltlich nahestehen und ihre Ideologie verbreiten.“

Artikelbild: Christian Charisius/dpa