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Woran erinnert euch diese Reaktion auf Cholera 1831?

von | Mai 2, 2020 | Analyse

2020: Die Verschwörungs-Querfront wächst und verbreitet sich wie ein Virus

Da geht gerade etwas gewaltig schief in unserem Land. Während wir weltweit als Vorbild im Kampf gegen Corona gelten, bildet sich in unserem Land eine immer größer werdende Front an Verschwörungstheoretiker*innen, Impfgegner*innen und Corona Leugner*innen.

(Diese Gruppe trenne ich ganz ausdrücklich von denjenigen, die die Maßnahmen aus nachvollziehbaren Gründen kritisieren!)

Seit Tagen wird bei mir der Unmut größer. Im ganzen Land mehren sich die Geschichten von Menschen, die sagen: “Es erwischt Leute, von denen ich es nie gedacht habe und auf einmal teilen die Verschwörungstheorien”. Auch gegen diese Form von “Virus” gibt es keine Immunität in unserer Gesellschaft, abstruse Theorien infizieren immer mehr Menschen und ihren Verstand. Und das entläd sich leider auch auf der Straße, wie wir hier beschrieben haben:

Wir alle haben keinen Bock mehr auf Corona: Euer Jammern juckt das Virus aber nicht!

Wir sehen die Wirkung der Verschwörungs-Querfront auf der Straße

Dieses Foto stammt von Samstag, den 25.04.20. Demo gegen die Pandemie-Maßnahmen in Stuttgart:

https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10158300408388134&set=a.10150718470028134&type=3&theater

Dystopie 2020: Zeit der Anti-Aufklärung

Die Verschwörungstheorien verbreiten sich gerade jetzt, in diesem Moment, in dem du diesen Zeilen liest, mit unglaublicher Geschwindigkeit in unserem Land. Facebook, Twitter, Instagram, Youtube, WhatsApp, Telegram:

Überall fluktuieren Geschichten darüber, wie Bill Gates, die WHO, (hier unser Artikel dazu) die Medien und die Politiker*innen, sich alle zeitgleich vermeintlich verschworen haben, um eine Diktatur zu errichten, um uns dann alle impfen zu wollen, um uns Chips zur Überwachung einzupflanzen. Verrückt? Ich weiß. Leute schicken sich die Sachen auf WhatsApp, Telegram, Facebook und so weiter. Verschwörungstheorien werden auf sozialen Netzwerken tausendfach geteilt, ohne dass das unterbunden wird. Das Konsumieren solcher Theorien wirkt wie eine Droge. Einmal angefangen, wird es schwer, wieder damit aufzuhören.

Das “Aha-High”: Wie Verschwörungstheorien die Gehirne unserer Freunde hacken

 

WAS FÜR EIN BULLSHIT!

Gerade jetzt haben viele Menschen Ängste. Existenzängste sogar. Viele können nicht nachvollziehen, warum das alles passiert und suchen nach Erklärungen. Diese Stimmung der Angst und Unsicherheit wird von den Verschwörungstheoretiker*innen ausgenutzt. Sie schließen die Informations- und Logiklücken, die bei den Menschen in den letzten Wochen aufgekommen sind:

“Achso, die Regierung macht das, weil man uns zwangsimpfen will”.

“Corona ist eine Lüge, wir werden getäuscht, man muss ja auch mal kritisch denken dürfen, unsere Krankenhäuser sind leer.”

“Man muss doch jetzt die Menschen aufklären. Fangt an, selbst zu denken. Vertraut nicht den Mainstreammedien”

“Ah, die Regierung will eine Diktatur errichten”.

“Aha, Bill Gates kontrolliert im Hintergrund alles, was passiert”

Menschen glauben das. In tausendfacher Anzahl. Leute fangen an, deswegen auf die Straßen zu gehen, überall im Land, während einer Pandemie.

Und während ich mich darüber aufrege, wird mir plötzlich dieses Bild in die Timeline gespült:

Und ich dachte mir: Ja, das passt. Also haben wir uns vom Volksverpetzer-Team angeschaut, was für eine Quelle sich hinter dem Bild befindet. Das Zitat stammt aus diesem Werk:

Buchcover: Chronik der Stadt Stettin

 

Das Zitat stammt aus dieser Seite hier im Kapitel über die Zeit der Cholera:

Tja, ich konnte das nicht ganz entzifferern. Daher haben sich ein paar Mitglieder aus unserem Team dran gesetzt und fleißig “übersetzt”.

Heute schauen wir uns mal eine Dystopie nicht aus aktueller Sicht auf die Zukunft an, sondern eine mögliche Dystopie mit dem Blick auf die Vergangenheit. (Eine Utopie meint eine tolle, unvorstellbar gute Welt, eine Dystopie eine sehr schlechte. Die Serie “Black Mirror” kennen ja vielleicht manche, die aktuelle Situation könnte, finde ich, gut eine Folge der Serie sein.) Tauchen wir also ab ins Jahr 1831 (Die Chronik erschien im Jahr 1949), in die Stadt Stettin, die von Cholera heimgesucht wird.

Bevor wir uns diese Geschichte geben, ein kurzer Reisehinweis: Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Damals war alles eine Ecke heftiger, aber die Parallelen zu heute sind nicht von der Hand zu weisen:

Stettin 1831

Begräbnis der Verstorbenen, welche auf einem besonderen neu angelegten Kirchhofe […] verscharrt wurden, erregten Furcht und Grauen, besonders in den untern Klassen der Einwohner. Noch schlimmer wirkten diese Vorkehrungen durch die gänzliche Hemmung des Verkehrs, wodurch einem großen Theile der Bewohner die Erwerbszweige und wohl auch die Mittel zum Lebens-Untherhalt genommen wurden. Die Cholera erschien daher in einer viel gefährlicheren Gestalt, als sie es ihrer Natur nach war. Die unteren Klassen konnten diesen Zustand nicht ertragen, und sahen, den unsinnigsten Gerüchten Glauben schenkend, in den getroffenen Vorkehrungen nur Mittel zu ihrem Verderben.

Auch damals haben viele Menschen ihren Job verloren. Nicht nur die Krankheit suchte die Leute heim, sondern auch die wirtschaftlichen Auswirkungen. Was daraus folgt ist “und sahen, den unsinnigsten Gerüchten Glauben schenkend,” was wir derzeit auch beobachten können. Man nennt das Fake News. Damals waren es die “untern Klassen”. Heute kann jede*r Anhänger*in von Verschwörungstheorien sein, das zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. 

Die längere Dauer der Absperrung mehrte die Erbitterung, die Aufregung stieg mit jedem Tage, so daß die am mehrsten betroffenen Arbeiter endlich geneigt wurden, die verhaßten Zwangsregeln mit Gewalt aufzuheben.
Kommt einem das bekannt vor? “Die Aufregung stiegt mit jedem Tage.” “Maßnahmen weg!” Ist alles nur ein wenig “zivilisierter” heute. Nun das Zitat aus dem Bild:
… denn die aufgeregte Menge stand, von einigen Unruhestiftern irre geleitet, in dem Wahn, daß man die Cholera und die Sicherungs-Maßregeln nur gebrauche, “um den gemeinen Pöbel auszurotten”
Von Unruhestifte*innen irre geleitet. Leute wie Xavier Naidoo, Billie Six und Co.? Klar, “ausrotten”, hat noch keine*r gesagt, aber was heraufbeschworen wird, ist: DIKTATUR! MAN NIMMT UNS DIE FREIHEIT WEG!
Aber es geht noch weiter.
Die Wut der aufgebrachten Masse wandte sich zuerst gegen einen Arzt, und erregt auf dem neuen Markte einen gewaltigen Tumult, so daß das Militär von der nahen Hauptwacht einschreien und den bedrohten Arzt retten mußte.
Erinnert das an die Morddrohungen die Virologe Christian Drosten erhält?

Dann eskalierte die Situation

Am Abend desselben Tages (1. Septe.) zogen große Volksmassen durch die Straßen, auf der Lastadie begann zuerst ein zahlreicher Pöbelhaufen, das Zeichen zum allgemeinen Aufstande zu geben, in dem die Unruhestifter in die dortige Apotheke wie auch in das Wohnhaus eines Stadtraths, gegen den der Unwille besonders gerichtet war, mit Gewalt eindrangen und durch Zerstörung des Mobiliars einen beträchtlichen Schaden anrichteten.
Soweit ist es bisher noch nicht gekommen. Das ist ausdrücklich ein Hinweis auf ein mögliches Schreckenszenario. Aber wie wir auch aus der Pandemie-Kommunikation wissen oder auch aus dem Strategiepapier des Inneministeriums entnehmen konnten: Man muss den Worst Case kennen und kommunizieren, um ihn letztendlich auch verhindern zu können. Diese weltweite Pandemie dauert noch ein wenig. Und jeden Tag, der vergeht, werden es mehr Anhänger*innen von Verschwörungsideologien.

Sofort ließ der zweite Kommandant von Stettin, Oberst von Brixen, Generalmarsch schlagen, die Wachen bedeutend verstärken und dann einen Theil der Garnison auf die Lastadie rücken, um dem weiteren Unwesen zu steuern.

Was wird passieren, wenn die Polizei eines Tages gegen eine große Demonstration vorgehen wird? Und was wird daraus folgen? Und was machen die Verschwörungsideolog*innen daraus? Ich will es mir nicht vorstellen.

Seine wiederholte Aufforderung zum Ruhehalten und Verlassen des Platzes, wurde von der aufgeregten Masse nicht beachtet, sondern sogar mit Verhöhnung des Militärs beantwortet, so dass der Oberst genöthigt ward, auf die widersetzliche Volksmasse feuern zu lassen, wodurch ein Maurergeselle getötet, mehrere andere aber verwundet wurden.

Das darf sicht nicht wiederholen

Ab hier will ich gar nicht mehr weiterlesen. Alles, was nun folgt, ist ein dunkles Kapitel in der Vergangenheit, dessen Wiederholung ich mir nicht wünsche und das mit allen Mitteln verhindert werden muss.
Solchen Ernst nicht erwartend, stob die dicht zusammengedrängte Masse in eiliger Flucht auseinander; doch wurde eine große Anzahl der Unruhestifter verhaftet und nach Fort Preußen gebracht. Die Nacht verging zwar ruhig; die aufgeregte Stimmung der unteren Volksklassen ließen indes einen neuen Aufstand befürchten, und da die vorhandenen Truppen nicht genügend erschienen, so bildete sich aus der Bürgerschaft, unter dem Vorsitze des Konsul Koch, ein Sicherheits-Verein, um den befürchteten Ausbruch von Gewaltthätigkeiten und Plünderung zu hindern. Sofort wurden die …
So und jetzt kommt noch ein besonders hässliches Stück dieser Geschichte. Und eines vorab: Das darf und wird es bei uns nicht geben.
Bürger-Kompanieen ausgehoben und aus dem königlichen Zeughause mit Gewehren und Säbeln bewaffnet. Die Handlungsdiener, wie auch die Gymnasiasten, unter dem Kommando des Professor Böhmer, bildeten freiwillige Kompagnieen, die, gleichfalls bewaffnet, mit den Bürgern den Wachtdienst teilten, und gleich diesen als Kennzeichen eine weiße Binde trugen, während die meisten Pferdebesitzer eine berittene Bürgergarde errichteten. So war denn schon am folgenden Tage ein großer Theil der Stettiner unter den Waffen; alle Plätze und Hauptstraßen waren von den Bürger-Kompagnieen besetzt, und zahlreiche Patrouillen durchzogen die Stadt.
Diese Maßregeln hatten den erwünschten Erfolg, denn obgleich sich noch einzelne Haufen von Übelgesinnten zusammenrotteten, so bewirkte doch das Auftreten der bewaffneten Macht, wie verständiges Zureden der Bürger, daß sie ohne weiteren Unfug auseinander gingen. Als der Kronprinz auf die erste Nachricht von diesen Vorfällen in Stettin ankam, um die Obrigkeit mit Rath und That zu unterstützen, war die Ruhe glücklicherweise wieder hergestellt, und wurde auch in der Folge nicht weiter gestört. Die Mitwirkung des Magistrats und der Bürgerschaft zur Wiederherstellung und Erhaltung der Ordnung wurde von dem Könige lobend anerkannt.

ENDE – Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich

Das sind nicht wir. Und das werden wir auch nicht sein. Das einzige, was uns diese Geschichte lehrt, ist, wie Dinge laufen können und schon einmal abgelaufen sind. Wir können und müssen daraus lernen, genauso, wie wir aus den Erfahrungen, die die Italiener*innen ein paar Wochen vor uns machten, lernten. Wir lernten, es ihnen nicht gleich zu tun, so sollten wir es auch nicht den Stettiner*innen von 1831 gleichtun.
Aber irgendwo in dieser Geschichte finden wir uns dann doch wieder. Leider.

Screenshot Facebook Seite von Luigi Pantisano (Hinweis: Er löschte den Post, aufgrund von Beleidigungen und Drohungen, die unter den Kommentatoren des Bildes getätigt wurden.)

Diese Demonstrationen finden überall im Land statt. Und sie bekommen Zulauf. Und es geht weiter. Berlin am 1. Mai:

Die nächste Verschwörungswelle kommt. Sie wachsen jeden Tag. Wir müssen die exponentielle Verbreitung stoppen. Wir müssen die Fake News-Pandemie unter Kontrolle bekommen, bevor der Worst Case eintritt. Viele bekommen es doch in ihrem Umfeld mit, dass es rumgeht. Jeden Tag werden mehr Menschen von Fake News infiziert.

ZEIT, DIE GRÄBEN ZU ÜBERWINDEN

Und Sorry an alle Kritiker*innen der Maßnahmen aus Gründen, die nichts mit Verschwörungstheorien und Fake News zu tun haben. Ich will euch nicht mit denen auf eine Seite stellen. Aber eine Bitte: Werdet zu Kritiker*innen, mit denen man was anfangen kann. Mit guten Argumenten, warum die Strategie der Regierung nicht sinnvoll ist. Wenn man dann Gegenargumente bekommt, beschäftigt euch mit denen. Wir tun das ja auch. Aber stellt euch nicht in ein Lager mit den Corona-Leugner*innen und Verschwörungsideolog*innen. Bleibt bei den Vernünftigen, gerne kritisch, aber immer noch darauf bedacht, dass wir zusammen die Krise lösen. Wir werfen euch nicht in einem Topf mit denen: Die Hand sei euch symbolisch gereicht.

Die Zeit der Aufklärung ist gekommen

Bei der Fake-News-Verbreitung gilt das gleiche wie gegen die Corona-Ausbreitung: Jede Handlung zählt, von jedem von uns. Entschuldige, wenn ich falsch liege, aber wir sind immer noch mitten in einer internationalen Krise. Krisenzustand auch noch in Deutschland, auch wenn wir das gerne ignorieren. Und wenn wir uns vorstellen, dass der Faktor R (die Verbreitungsrate, wie viele Personen steckt eine Person im Schnitt an) derzeit bei knapp unter 1 liegt, genau da, wo wir laut Wissenschaft sein sollen, um die exponentielle Verbreitung des Virus einzudämmen, ist das gerade eine wackelige Lage der Nation.

Klärt die Leute in eurem Umfeld auf. Versucht es. Manchchmal klappt es, manchmal nicht. Aber jede*r Einzelne zählt jetzt, der / die aufhört, diese Verschwörungstheorien weiter zu verbreiten und die Beiträge zu teilen.

Rüstet euch mit Wissen. Entlarvt die Verschwörungs-Lügner*innen. Wir und andere versorgen euch mit Artikeln und Quellen. Das ist, was jede*r in dieser Krise aktiv zum Gemeinwohl beitragen kann. Danken wird es euch keine*r. Aber den Worst Case verhindern wir trotzdem damit.

“There is no glory in prevention.” – Virologe Christian Drosten 12.04.20

Und nochmal an alle da draußen, für die es wirklich eine schwere Zeit ist: Ihr seid nicht vergessen.

Andrà tutto bene.

Alles wird gut.

Hoffentlich für uns alle.

PS: Diese Geschichte sollten mehr Leute kennen? Dann teil sie doch mit deinen Bekannten oder in deinen Whats App/Facebook Gruppen. Auf diese Weise kann sich dieser Text und die enthaltenen Informationen auch exponentiell verbreiten.

PPS: Oder schick diesen Text doch mal einem Influencer / einer Influencerin deines Vertrauens und bitte ihn oder sie darum, dass Thema Fake News und Verschwörungstheorien aufzugreifen. Vielleicht ja auch diese Geschichte hier. Danke!

Und wer es haben möchte, hier auch noch das historische Zitat, falls das jemand für irgendwas benutzen möchte:

(In einer früheren Version bezogen wir uns auf das Jahr 1849. In diesem Jahr wurde die Chronik herausgegeben. Die Ereignisse fanden jedoch im Jahr 1831 statt. Wir haben das entsprechend angepasst)

Wer grundsätzlich nachvollziehen möchte, warum Politiker getan haben, was sie getan haben, kann das hier nachlesen: 

Was getan werden muss, um bald wieder raus zu können: Der Hammer & der Tanz



Artikelbild: Chronik der Stadt Stettin