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Faktencheck: Das ist eine Karte von 1945!

von | Okt 3, 2024 | Faktencheck

Vor einigen Tagen sorgte ein Tweet von der Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer für Irritationen. Sie postete eine Weltkarte, auf der die US-Militärbasen im Ausland zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu sehen sind, allerdings war dieser Kontext nicht zu erkennen. Es entstand der fälschliche Eindruck, dass die Vereinigten Staaten Militärbasen in Ländern wie China, Iran oder sogar “Französisch-Indochina” hätten. Stattdessen bezog sich die Professorin auf Quellen, die rechtsextreme Verschwörungstheorien und antisemitische Motive verbreiten. Dabei gäbe es Anlass und auch seriöse Quellen, um US-amerikanische Kriegsverbrechen und unverhältnismäßige Militäreinsetze zu problematisieren. Solche Beiträge schaden der Auseinandersetzung jedoch und machen die Kritik selbst angreifbar.

Die Fakten: US-Militär weltweit

Schauen wir zunächst auf die Fakten. Während bzw. unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg besaßen die USA wahrscheinlich über 2.000 Militärbasen weltweit. Diese enorm hohe Zahl lässt sich natürlich durch den Zweiten Weltkrieg selbst erklären – seitdem sank die Zahl über viele Jahrzehnte.

Screenshot: basenation.com

Wie viele Militärbasen es aktuell, im Jahr 2024, genau gibt, lässt sich gar nicht so einfach sagen, da einerseits die genaue Definition kompliziert ist und das Militär natürlich auch daran interessiert ist, Details über seine Aktivitäten eher nicht allzu laut herumzuposaunen. Die Schätzungen schwanken um die 750 bis 800 (Anmerkung: Letztere Quelle ist Reiner Braun, der der Ukraine ihr Selbstverteidigungsrecht absprach, unter anderem Ken Jebsen verteidigte).

Dabei gibt es weiterhin Veränderungen, zum Beispiel zogen die USA vor 3 Jahren all ihre Truppen aus Afghanistan ab, wo zuvor zwischenzeitlich um die 100.000 Soldat:innen stationiert waren. Gleichzeitig eröffnen die USA auch neue Basen, so zum Beispiel vergangenes Jahr auf den Philippinen. Auch sonst werden US-amerikanische Truppen immer noch im Ausland eingesetzt wie beispielsweise im April 2023 zur Evakuierung der Botschaft von Khartoum (Sudan).

Es gibt viele gute Gründe, diese Militärpräsenz kritisch zu hinterfragen. Vor allem aufgedeckte Kriegsverbrechen, wie der Folter-Skandal von Abu Ghraib oder die Vorgänge in Guantamo Bay, wo Gefangene unter fadenscheinigen Gründen festgehalten und teilweise gefoltert wurden, erklären die Grundskepsis gegenüber US-amerikanischen Auslandseinsätzen. Aber auch unabhängig davon ist es komplett legitim, kritisch zu hinterfragen, ob die hunderten US-Basen im Ausland wirklich Frieden und Sicherheit bringen.

Medienwissenschaftlerin Schiffer teilt veraltete Karte ohne Einordnung

All das hätte die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer ohne Probleme und unter Verweis auf seriöse Quellen tun können. Der Abschnitt oben ist buchstäblich der Beweis – wir haben nur einen Bruchteil der verfügbaren Quellen verwendet und (selbst-)kritisch angemerkt, dass auch kontroverse Quellen darunter sind. Stattdessen leitete sie ihre Kritik mit einer Karte ein, die aufmerksamen Leser:innen bekannt vorkommen dürfte:

Screenshot twitter.com

Ja, das ist fast genau die gleiche Karte, wie die, welche wir oben im Artikel verwenden. Dieselben Symbole, dieselbe Verteilung der Basen, genau dieselben Zahlen. Die Karte ist eingefärbt, es wird eine etwas andere Schriftart verwendet – und vor allem: Es wurden Jahreszahl und Quellen ausgeschnitten. So entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, es würde sich hier um eine aktuelle Karte handeln, insbesondere in Verbindung mit der Textzeile “Was machen die USA eigentlich da überall?”.

Hier nochmal beide Karten im Vergleich, damit die Parallelen deutlich werden:

Klar, wenn man genau hinschaut, dann sieht man, dass hier Basen in China, im Iran und in Nicaragua vermerkt sind – alles Länder, mit denen die USA heute kein gutes Verhältnis und schon gar keine solche Militärkooperation hat, um es vorsichtig auszudrücken. Außerdem fallen die Basen in “Süd-Rhodesien”, “Französisch Indochina”, “Ceylon” und “Jugoslawien” auf – alles Länder, die natürlich schon lange nicht mehr unter diesem Namen existieren.

Doch wir reden hier von Twitter. Die meisten Menschen haben weder den Atlas noch das Geschichtsbuch dabei, während sie durch ihren Feed scrollen. Und wenn man dann auf den ersten Blick keine Jahreszahl sieht und die aktuellen Grenzen bemerkt (selbst der Süd-Sudan ist schon eingezeichnet – der Staat ist erst seit 2011 unabhängig!), dann kann hier schnell der Eindruck entstehen, es wäre eine Wiedergabe der aktuellen geopolitischen Situation. Könnte man von der Leiterin des “Instituts für Medienverantwortung” nicht etwas mehr…Medienverantwortung erwarten?

Rabbithole der “Quellen”: Antisemitismus, Reichsbürger – keine Richtigstellung?

Doch es wird noch schlimmer. Denn anstatt den Kontext herzustellen, aus dem diese Grafik stammt, gab sie als Quelle folgendes YouTube-Video an:

Ja, richtig gesehen: Im Thumbnail des Videos ist das antisemitische Motiv des “Marionettenspielers” vertreten. Diese antisemitische Dogwhistle spielt darauf an, dass es im Hintergrund geheime, implizit oder explizit jüdische “Strippenzieher” gebe, die insgeheim Politik und Wirtschaft kontrollierten. Auch das ohne eine kritische Einordnung dieses Thumbnails. Und es geht immer noch weiter.

Denn nachdem erste kritische Kommentare unter dem Tweet auftauchten, fügte die Medienwissenschaftlerin eine weitere Quelle hinzu. Laut ihren Angaben war das auch die Quelle, die der Urheber des Videos verwendete. Es handelt sich um einen Artikel, in dem die Karte in der Version verwendet wurde, die auch Schiffer teilte – also ohne Einordnung und Jahreszahl. Noch brisanter: Im selben Artikel wird von den Auslandseinsätzen der USA als “occupation”, also “Besetzungen”, geschrieben. Demnach sei unter anderem auch Deutschland unter US-Besetzung. Damit sind wir ideologisch in der Nähe der rechtsextremen Reichsbürgerszene. Deren Ideologie besagt im Kern, dass die Bundesrepublik Deutschland kein souveräner Staat sei, sondern weiterhin von den Alliierten besetzt.

Diese beiden Quellen verlinkte Sabine Schiffer also ohne Einordnung unter ihrem kontroversen Tweet, der mittlerweile einiges an Aufmerksamkeit erhalten hat (485.000 Views während wir diesen Artikel verfassen). Wohlgemerkt: Die Leiterin des “Instituts für Medienverantwortung”.

Reaktion auf Konfrontation: Ausweichen

Wir haben Sabine Schiffer mit den Vorwürfen konfrontiert. Auf unsere Fragen, ob es ihr bewusst war, dass diese Karte einen um viele Jahrzehnte veralteten Stand zeigt, antwortete sie ausweichend. Die Karte sei als “Symbolbild” gemeint, da es ja keine ganz aktuelle gebe, die neuste sei von 2020. Warum sie dann nicht die Karte von 2020 verwendete, sondern eben eine mit Stand 1945, führte die Medienwissenschaftlerin nicht weiter aus.

Konfrontiert mit der Verwendung antisemitischer Motive in von ihr verlinkten Quellen behauptete Schiffer, das Video sei “das Gegenteil von Antisemitismus” – schließlich erfahre man ja am Ende des Videos, dass Israel nicht der Strippenzieher sei, sondern dass Israel selbst instrumentalisiert werde. Der Denkfehler dahinter: Wir haben nie behauptet, dass Israel die Strippen ziehe, sondern haben das grundsätzlich antisemitisch aufgeladene Motiv kritisiert. Eine kritische Einordnung dieses Motivs bleibt von Schiffer weiterhin aus. Auch dieser Vorwurf muss also bestehen bleiben.

Auch von der Reichsbürger-Ideologie distanzierte sie sich, bleibt aber dabei, dass sie aus Gründen der “Quellentransparenz” diese Seite habe angeben müssen. Warum man eine Karte überhaupt verbreitet, wenn die offenbar einzige Quelle Verschwörungserzählungen verbreitet und die Karte sowieso schon lange nicht mehr aktuell ist, verriet sie uns nicht. Stattdessen beklagte die Autorin, dass in den Kommentaren eine Hetzkampagne gegen sie liefe. Tatsächlich ist an dieser Stelle anzumerken, dass viele Kommentare auf der Seite von Frau Schiffer unsachliche Kritik und persönliche Angriffe umfassten – wir bei Volksverpetzer kennen das und haben deswegen schon vor langer Zeit die Kommentarspalten auf Twitter vollständig geschlossen. Wir sind dennoch grundsätzlich solidarisch mit allen Kolleg:innen und Wissenschaftler:innen, die auf Social Media diesem Psychoterror ausgesetzt sind.

Medienwissenschaftlerin Schiffer sollte Verantwortung übernehmen

Doch noch einmal zurück zum Inhaltlichen. Es ist erschreckend, wie viel antisemitische und teils offen rechtsextreme Propaganda seit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk auf der Plattform kursieren. Wir empfehlen schon länger allen Politiker:innen und Wissenschaftler:innen, Twitter zu verlassen oder zumindest, so wie wir, die Kommentare zu schließen. Umso wichtiger wäre es jedoch, dass gerade Wissenschaftler:innen in diesem Meer an Desinformation standfest bleiben. Sie tragen Titel und halten Lehrstühle, entsprechend werden sie von vielen mittlerweile als letzte Hoffnung für faktenbasierten Diskurs wahrgenommen.

Darum ist es sehr problematisch, wenn Frau Schiffer eine Karte mit veralteten Informationen ohne Kontext teilt, nur um ihren politischen Standpunkt zu untermauern. Insbesondere als Professorin, die sich “Medienverantwortung” auf die Fahnen schreibt und Studierenden den Umgang mit Medien beibringen soll, müsste der moralische Anspruch, auch wirklich alle Fakten zu checken, bevor man etwas öffentlich teilt, hier viel höher sein.

Noch problematischer ist allerdings das Teilen von antisemitischen Motiven und Quellen mit Reichsbürger-Ideolgoie ohne Einordnung. Gerade hier wäre es, aus einer medienkritischen Perspektive, notwendig, zumindest zu erklären, warum die Quellen problematisch sind und dennoch verwendet wurden. Die “Transparenzpflicht” als Ausrede zu nutzen, sich nicht kritisch mit Quellen auseinanderzusetzen, reicht da nicht.

Und so werden sich immer mehr Menschen von Wissenschaft abwenden – eine gefährliche Entwicklung.

Exkurs: Ausländische Militärbasen anderer Staaten

Einen Gefallen tun wir Frau Schiffer zum Abschluss doch noch. Sie hatte dazu aufgefordert, dass wir auch die Zahlen zu Russland und China in den Vergleich stellen sollen. Dieser Trick wird gern genutzt, um die scheinbar absurd unterschiedlichen Verhältnisse zu den USA aufzuzeigen, denn offiziell hat Russland nur eine niedrige zweistellige Zahl an Militärbasen im Ausland. Wir verstehen den Sinn von diesem Vergleich nicht ganz (wären die Verbrechen von Abu Ghraib, Guantanamo und anderswo etwa weniger schlimm, wenn Russland 200 Militärbasen mehr hätte?), doch wollen das auch noch anfügen.

Die USA haben aktuell rund 165.000 Truppen weltweit stationiert. Das ist eine sehr hohe Zahl. Allerdings darf man in Anbetracht dessen nicht vergessen, dass Russland aktuell allein im Krieg in der Ukraine um die 700.000 Truppen im Einsatz hat. Davon sind wahrscheinlich um die 500.000 Besatzungstruppen, die in völkerrechtlich ukrainischem Gebiet stationiert sind. Natürlich nicht brav in offiziellen Basen, die man auf Karten packen kann, sondern als Besetzer und unter roher Gewalt. Noch dazu kommt, dass die russische Regierung viele Operation im Ausland über “Private Militärunternehmen” direkt oder indirekt unterstützt. Bekannte Beispiele davon sind die Gruppe Wagner oder Redut, die George Washington State University hat darüber vor kurzem eine ausführliche Analyse veröffentlicht.

China hingegen verzichtet außerhalb seiner direkten geographischen Umgebung fast komplett auf militärische Stationierungen. Stattdessen übt die Regierung eine Mischung aus wirtschaftlichem Einfluss und soft power aus, die von manchen als Neokolonialismus bewertet wird.

Fazit

Während also sowohl Russland als auch China zum Teil Praktiken verfolgen, die durchaus Parallelen zum Kolonialismus europäischer Staaten oder dem Imperialismus der USA aufzeigen, wird das in gewissen, oft sich selbst als “links” und “friedensbewegt” verstehenden Kreisen eher selten thematisiert. Wir können zu diesen Fragen auch keine hinreichenden Antworten geben. Nur so viel: Den getöteten Zivilist:innen in Butscha hilft es wenig, dass auch in Guantanamo gefoltert wird. Wie wäre es, wenn wir Kriegsverbechen gleichermaßen anprangern und verfolgen, egal, wer sie begeht?

Jedenfalls hilft es niemandem, wenn eine deutsche Professorin Desinformation in Form von veralteten Karten verbreitet. Genau das hat Frau Schiffer aber getan – und das als Professorin und Leiterin eines Instituts für Medienverantwortung. Nicht nur verbreitete sie die Karte ohne wichtigen Kontext, sie weigerte sich auch noch, nachdem die Kritik nicht abriss, den Fehler zu korrigieren. So wurden immer mehr Menschen der Täuschung ausgesetzt. Sie nutzte Quellen, die mindestens eine Nähe zur Ideologie der Reichsbürger haben und teilte ein antisemitisches Motiv. Auch nach all dem sieht Sabine Schiffer nicht ein, dass eine Richtigstellung angebracht wäre.

Und denjenigen, denen es tatsächlich um Aufklärung von Kriegsverbrechen geht, die sich ehrlich für Frieden einsetzen, hat sie damit auch einen Bärendienst geleistet. Denn indem sie den Fokus auf falsche Karten und antisemitische Quellen legt, wird vom eigentlichen Thema abgelenkt. Damit ist nun niemandem geholfen. Die Diskussion, wie viele Militärbasen es genau gibt, bleibt im Elfenbeinturm. Die Menschen in Kriegsgebieten leiden weiter.

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