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Softwarefehler: Warum Rechte unbedingt über Wahlbetrug lügen

von | Sep 5, 2024 | Analyse

Softwarefehler: Bei der Wahl in Sachsen wurde wegen eines Fehlers zunächst versehentlich ein altes Zählverfahren angewendet. Die CDU, aber auch die AfD bekamen versehentlich einen Sitz zu viel und das musste korrigiert werden. Rechtsextreme von AfD bis Elon Musk stürzen sich darauf, um ihre Lügen von “Wahlbetrug” zu verbreiten.

Dass die AfD in Sachsen nur knapp den ersten Platz bei der Landtagswahl hinter der CDU verpasst hat, war erschreckend genug – zunächst schien es außerdem, als hätte sie zudem genug Sitze gewonnen, um eine Sperrminorität im Sächsischen Landtag zu erreichen. Das ist relevant, weil bestimmte, schwerwiegende Entscheidungen im Landesparlament nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit aller Abgeordneten getroffen werden können, wie beispielsweise die Änderung der Landesverfassung, die Besetzung von Richtern am Landesverfassungsgerichtshof oder von Stellen am Landesrechnungshof. 

Doch am Morgen nach der Wahl korrigierte der Landeswahlleiter die Meldung und nannte einen Softwarefehler als Grund für die falsche Sitzverteilung. Die AfD verpasst die von ihr angestrebte Sperrminorität um genau einen Sitz, und auch die CDU verlor einen Sitz im Vergleich zu den Ergebnissen am Wahlabend – SPD und Grünen stehe je ein Sitz mehr zu, hieß es vom Landeswahlleiter.

Die Erklärung für den Fehler ist schlüssig: Der Wahlexperte Matthias Cantow sagte gegenüber t-online:

“Mit einem in Sachsen nicht mehr verwendeten Verteilungsverfahren kommt man auf die Werte, die der Landeswahlleiter angegeben hatte. Die Vermutung lag nahe, dass das falsche Verteilungsverfahren angewendet wurde. Der Landtag hatte das Verfahren im vergangenen Jahr im Wahlgesetz geändert.”

Versehentlich altes Verfahren angewendet

Bei AfD-Fans stößt diese Korrektur jedoch erwartungsgemäß auf Empörung. Rechte Accounts posten seitdem auf Twitter verschwörungsraunend, dass der Softwarefehler nur vorgeschoben, nur ein Trick sei, um die Sperrminorität der rechtsextremen AfD gegen den Wählerwillen zu verhindern – Memes inklusive. Der gemeinsame Nenner der AfD-Fans: Die Landeswahlleitung müsse betrogen haben, der Softwarefehler sei nur eine faule Ausrede, das könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Manche Accounts witterten außerdem Betrug, weil in einem Landkreis die Auszählung von 103% der Stimmen vermeldet wurde. Der Landtagsabgeordnete der bayerischen AfD Andreas Winhart twitterte

“Der diesjährige ‘Briefwahl-Preis’ geht nach Strehla in #Sachsen mit 103,5% Wahlbeteiligung bei der #Landtagswahl. ‘Tolles Ergebnis’, das muss man erstmal hinbekommen!”

AfD-Wähler suchen verzweifelt nach Wahlbetrug

Nur – es gibt eine sehr einfache Erklärung für die mehr 103 % Wahlbeteiligung: „Bei der Wahl haben zahlreiche Wahlberechtigte ihre Stimme per Briefwahl abgegeben. Dies kann in einzelnen Gemeinden zu einer rechnerischen Wahlbeteiligung von mehr als 100 Prozent führen“, sagte ein Sprecher des Landeswahlleiters der Leipziger Volkszeitung. Weil nicht jede einzelne Gemeinde über eine Briefwahlstelle verfügt, werden die abgegebenen Stimmen also an manchen Orten zusammengefasst.

Winhart teilte und schrieb außerdem mehrere Tweets, in denen impliziert wird, dass hinter der Korrektur des Wahlergebnisses eine Verschwörung stecke und die Demokratie keine sei. 

Schon kurz vor der Wahl hatte der offizielle Twitter-Account der AfD Sachsen die eigenen Anhänger dazu aufgerufen, drohenden “Wahlbetrug” zu “verhindern” und zum “Aufpassen” ins Wahllokal zu gehen – mit dem Hashtag “kontrolleistbesser”. Nur so könne garantiert werden, dass “Sachsen Heimat bleibt”: 

“Wir bitten Sie herzlich: Nehmen Sie sich die Zeit, gehen Sie am Sonntag in ein Wahllokal – nicht nur zum Wählen, nein, auch zum „Aufpassen”. Und keine Angst: Alles bleibt anonym, als Wahlbeobachter sind Sie einfach im Wahllokal „anwesend”. Nicht mehr und nicht weniger. Bitte machen Sie sich das Recht, die Auszählung zu beobachten, zur „Pflicht”. Damit Sachsen Heimat bleibt!”

Richtigstellung ist gefundenes Fressen

Die Implikation ist klar: Wenn AfD-Wähler nicht aufpassen, versuchen die demokratischen Parteien, diese Wahl zu stehlen. Es ist eine beliebte Masche bei rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien, im Vorfeld einer Wahl Angst vor Wahlbetrug und geheimen Verschwörungen zu streuen – sollte das Wahlergebnis schlechter ausfallen als erhofft, kann man jede Schuld von sich weisen, sollte man die Erwartungen übertreffen, kann es von der Partei als besonders intensive Unterstützung der Bevölkerung trotz des angeblichen Betrugs ausgelegt werden.

Nach der Richtigstellung des Wahlergebnisses behauptete der Fraktionsvorsitzende der Sachsen AfD Jörg Urban zwar, niemandem werde Manipulation unterstellt, stellte aber gleichzeitig eine solche Möglichkeit in den Raum: “Wir wollen haargenau wissen, was genau schiefgelaufen ist. Sollte es zu Unregelmäßigkeiten kommen, leiten wir juristische Schritte ein.” Er fügte hinzu: “In diesem Fall geht es um politische Gestaltungsmöglichkeiten der AfD im Sächsischen Landtag. Jeder Zweifel am endgültigen Wahlergebnis muss deshalb ausgeschlossen sein.”

Warum Rechte dich über Wahlbetrug belügen

Es gibt zwei Gründe, warum Rechtspopulisten sich so oft auf die Verschwörungserzählung des Wahlbetrugs berufen, wenn sie entweder Wahlen verlieren oder wenn die eigenen Ergebnisse hinter den Erwartungen zurückbleiben: Zum einen glauben Rechtspopulisten, dass sie die “stille Mehrheit” der Bevölkerung vertreten, dass sie die eigentliche Stimme einer schweigenden Mehrheit sind, die insgeheim unter dem Liberalismus und der Permissivität der etablierten demokratischen Parteien leiden, aber resigniert haben. Das erlaubt es Rechtsextremisten, sich ideologisch im Kern zu versichern, eine Mehrheit der Bevölkerung zu vertreten, auch wenn sich das beispielsweise in Umfragen nicht niederschlagen muss. Unliebsame Umfrageergebnisse werden umgedeutet, indem sie neu definieren, wer zum “wahren Volk” gehört – wer ein “echter” Deutscher, Amerikaner, Franzose, Ungar und so weiter ist. 

Wer beispielsweise wie der Fellow des Claremont Institute Glenn Elmers der Meinung ist, nicht alle der mehr als 85 Millionen Amerikaner*innen seien “echte” Amerikaner*innen, und nur Trump-Unterstützer hätten die Staatsbürgerschaft verdient, definiert den “Volkskörper” neu auf eine Art und Weise, die es ihm ermöglicht, sich als Sprachrohr dieser verfälschten “Mehrheit” darzustellen, die in Wirklichkeit keine ist. Zudem bereiten solche unbegründeten Erzählungen von angeblicher Wahlmanipulation durch demokratische Parteien den Boden für die weitere Radikalisierung der Anhänger rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien – und normalisieren allmählich die Weigerung, rechtmäßige Wahlergebnisse anzuerkennen.

Sie wollen das Vertrauen in die Demokratie untergraben

Der zweite Grund für Rechtspopulisten und Faschisten, spätestens dann laut “Wahlbetrug” zu rufen, wenn sie eine Wahl verloren – oder das gewünschte Ergebnis verfehlt haben, liegt in ihrem Bestreben, das Vertrauen in die Demokratie als Staatsform zu untergraben. So lassen sich die eigenen Anhänger weiter radikalisieren. Wer glaubt, seine Stimme zähle nicht und dass die Demokratie eigentlich gar keine ist, der ist potentiell offener für eine radikalere Politik – so lassen sich Rufe nach einer starken Führungsfigur und der Schwächung demokratischer Normen und Grundrechte als anti-elitär darstellen. Klassenkampf-Cosplay sozusagen, um einen autoritären Staat zu legitimieren. 

Die besondere Ironie dieser Landtagswahl in Sachsen: Es scheint, als habe die AfD in Sachsen Stimmen an ihre Gesinnungsfreunde von der rechtsextremen Kleinstpartei “Freie Sachsen” verloren. Die hat der AfD nämlich wichtige Stimmen streitig gemacht – naheliegend bei einer so großen inhaltlichen Überschneidung. Mehr noch: Die Polizei ermittelt jetzt wegen eines echten Falls mutmaßlicher Wahlfälschung: Die Polizei Dresden hat wegen manipulierter Wahlzettel eine Untersuchung eingeleitet. Anders als in den von Rechtsextremen verbreiteten Verschwörungserzählungen waren es jedoch nicht die demokratischen Parteien, die hier betrogen haben – sondern Anhänger der rechtsextremen Freien Sachsen. Man rechnet bisher mit um die 130 gefälschten Stimmzetteln. Die Untersuchungen laufen.

Auch Antisemit Elon Musk schaltet sich ein

Mittlerweile hat die Landtagswahl in Sachsen die Aufmerksamkeit eines der mächtigsten und reichsten Männer der Welt erregt: Elon Musk. Musk teilt regelmäßig rassistische und antisemitische Inhalte, interagiert freundlich mit White Nationalist Accounts auf Twitter, vertritt offen rechtsextreme Ansichten und verbreitet Falschinformationen. Jetzt reagierte Musk auf einen Tweet von Naomi Seibt, einer neurechten deutschen Youtuberin, die als Teenagerin als selbst stilisierte „Anti-Greta“ (als Gegenfigur zu Greta Thunberg) und Klimawandelleugnerin bekannt geworden war, was ihr schon einen Rednerplatz auf der CPAC eingebracht hat. Musk solidarisierte sich mit ihr unter einem Tweet, in dem Seibt die Erklärung für die Korrektur des Wahlergebnisses anzweifelte: “Ist das rechtmäßig? Software-Fehler klingt seltsam…”

Seibt wurde mehrfach auf Veranstaltungen mit Neonazis, Mitgliedern der Identitären Bewegung und anderen Rechtsextremen sowie bei Events fundamentalistischer Christen gesichtet. Ihre Mutter Karoline Seibt ist Anwältin und hat laut der Huffington Post Verbindungen zur AfD. Auch der Spiegel verortet sie als AfD- und Qanon-nah. Naomi Seibt selbst gibt an, die AfD zu unterstützen. Sie hat außerdem in der Vergangenheit für das rechte Heartland Institute gearbeitet – einen US-Think Tank, der den Klimawandel leugnet und die Interessen der fossilen Brennstoffindustrie vertritt. Es ist nicht das erste Mal, dass Musk mit Seibt interagiert hat und ihre Verschwörungserzählungen und die anderer deutscher Rechtsextremer für bare Münze nimmt und durch seine Interaktion mit ihren Accounts verbreitet.

Musk – bestens vernetzt mit Lügnern und Demokratiefeinden

Gleichzeitig unterstreicht diese Episode, dass rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen zwar höchst nationalstisch sind – sich aber trotzdem international vernetzen. Musk, der selbst Trump und dessen Lüge vom angeblichen Wahlbetrug durch die Demokraten unterstützt, hat auf Twitter selbst bereits im April mit Höcke, dem Gewinner der Thüringer Landtagswahl, interagiert. Im Juni hatte Musk sich auf seinem Account gewundert, warum es eine “so negative Reaktion auf die AfD” gebe, er verstehe nicht, warum sie und ihre Politik als rechtsextrem bezeichnet würden – er habe noch nichts Rechtsextremes von ihnen gesehen, “vielleicht übersehe ich etwas”. Unter den Antworten, auf die Musk reagierte, fand sich Pandemieleugner Stefan Homburg, der dem Twitter Chef versicherte, die AfD sei lediglich konservativ “im Stil der 1990er” – unter Merkel hätte sich die CDU zur “grünen Lockdown-Partei” entwickelt, er – Musk – übersehe nichts. Musks Reaktion: “Ok.” 

Erneut zeigt sich: Rechtsextreme und Rechtspopulisten bedienen sich international desselben Werkzeugkastens – die Untergrabung des Vertrauens in freie Wahlen und eine funktionierende Demokratie, um die Sehnsucht nach autoritärer Herrschaft zu wecken, ist einer der wichtigsten Bestandteile ihres politischen Projekts. 

Artikelbild: Screenshot Twitter, canva.com