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Tausend Nadelstiche: Warum eine AfD-Regierung verhindert werden muss

von | Sep 3, 2024 | Analyse, Demokratischer Herbst

Autor: Jannik Jaschinski. Dieser Artikel erschien zuerst bei Verfassungsblog.

Die Pläne der extremen Rechten in Potsdam im Januar setzen viel früher an, als bei der Abschiebung von Millionen Menschen aus Deutschland. Der AfD-Landtagsabgeordnete Ulrich Siegmund (Sachsen-Anhalt) formulierte dort auch den „Masterplan“, dass das Straßenbild sich ändern und ausländische Restaurants unter Druck gesetzt werden müssen. Gerade dadurch solle es in Sachsen-Anhalt „für dieses Klientel möglichst unattraktiv sein, zu leben“. Die soziale Infrastruktur dient der extremen Rechten als vorgeschalteter Hebel für das Ziel ihrer rassistischen Ideologie – der Vertreibung migrantisierter Personen aus der Gesellschaft.

Kommen autoritäre Populist:innen mit diesen Plänen an die Regierung, ist zu befürchten, dass sie über das Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht hinaus die gesamte Bandbreite verwaltungsrechtlicher Repression nutzen könnten, um migrantisierte Personen und ihre soziale Infrastruktur zu schikanieren. Sie müssen dafür nicht auf unbestimmte Generalklauseln zurückgreifen, sondern können alltägliche, spezielle Eingriffsbefugnisse für eine schmerzende Taktik der „tausend Nadelstiche“ missbrauchen. Die Strategien dafür sind längst geschaffen und im Einsatz.

Für eine gute Ordnung des Gemeinwesens

Verwaltungsrechtliche Ordnungsrahmen zu verwenden, um missliebige Personen zu verfolgen, wäre gewiss keine neue Erfindung einer autoritär-populistischen Regierung. Seit Jahrhunderten helfen unbestimmte Generalklauseln dabei, das Verwaltungsrecht repressiv auszurichten. Im 15. Jahrhundert entwickelte sich in Deutschland die „Policey“ als Zustand einer „guten Ordnung des Gemeinwesens“.

Die Obrigkeiten verfolgten – kirchlich motiviert – Fluchen, Kuppelei und ungehörige Kleidung. Der moderne polizeiliche Fokus auf Gefahrenabwehr erhielt zwar im 19. Jahrhundert Einzug. Über das preußische Polizeirecht hält sich der Begriff der öffentlichen Ordnung als Projektionsfläche hoheitlicher Moralvorstellungen aber bis heute. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit des Begriffs als „Ausdruck herrschender sozialer und ethischer Anschauungen“ in seinem Brokdorf-Beschluss bestätigt. Auch neuere Gesetzgebungsvorhaben wie in Thüringen ziehen gerade im Versammlungskontext die Einbeziehung der öffentlichen Ordnung in Betracht, obwohl der Begriff großes autoritär-populistisches Missbrauchspotenzial bietet.

Abgesehen von diesen unbestimmten Auffangtatbeständen richtet sich die spezielle Gefahrenabwehr heute vordergründig an Gefahren für konkrete Rechtsgüter aus. Auch wenn dies nicht davor schützt, dass sich die Behörde unterschwellig doch von sachfremden Erwägungen leiten lässt, verfolgen verwaltungsrechtliche Ordnungsrahmen in der Regel legitime, oft essenzielle Zwecke des gemeinschaftlichen Zusammenlebens: Das Bauordnungsrecht schützt beispielsweise vor der Lebensgefahr von Wohnungsbränden, das Gaststättenrecht vor verdorbenem Essen, und das Steuerrecht soll die Finanzierung von Schulen und Straßen sicherstellen.

Offene Neuausrichtung

Mit dem sogenannten administrativen Ansatz haben deutsche und europäische Behörden ihre verwaltungsrechtliche Zielsetzung aber wieder offen erweitert (grundlegend Rauls/Feltes). Das 2010 gegründete European Network on the Administrative Approach tackling serious and organised crime (ENAA) folgte der Überzeugung, dass insbesondere der sogenannten „Rockerkriminalität“ nicht allein durch strafrechtliche Verfolgung effektiv Einhalt geboten werden könne. Die neue Strategie umfasst stattdessen, die verwaltungsrechtliche Kontrolle dieser Personen zu intensivieren, „mit niedriger Einschreitschwelle“, wie auch die Innenministerkonferenz (IMK) 2012 beschloss.

Grundlage des administrativen Ansatzes ist es, verschiedene verwaltungsrechtliche Eingriffskompetenzen strategisch zu bündeln und auf die soziale Infrastruktur der anvisierten Gruppe auszurichten. Als Werkzeuge dienen etwa die Gewerbeaufsicht, das Bauordnungs- und Steuerrecht, das Glücksspiel- und Vereinsrecht. Gerade Razzien mit personellem Großaufgebot sollen ein resolutes Auftreten der Polizei beweisen und als Türöffner für weitere Strafverfolgung dienen.

Die ursprünglich vom jeweiligen Fachrecht bezweckte Gefahrenabwehr verfolgt die Behörde dabei zwar nebensächlich weiter, sie tritt aber hinter den eigentlichen Zweck der Maßnahme zurück, „tausend Nadelstiche“ (zum Beispiel hier und hier) zu setzen. Wo das Strafrecht nicht hinkommt, soll das Verwaltungsrecht Ersatzrepressionen bewirken. Rechtsstaatliche Bedenken oder zumindest Kontrollüberlegungen kommen weder in dem über 600-seitigen Empfehlungsbericht des ENAA noch im genannten IMK-Beschluss vor. 

Die Spielräume der Verwaltung

Rechtliche Anknüpfungspunkte der tausend Nadelstiche sind neben dem Einschreiten vom Schreibtisch der Behörde aus – durch entzogene Genehmigungen, erlassene Auflagen oder ähnliches – Eingriffsbefugnisse vor Ort. So sieht etwa § 29 Abs. 2 der Gewerbeordnung bei erlaubnispflichtigen Gewerben die Möglichkeit der Nachschau vor. Sie gestattet, Grundstücke und Geschäftsräume des Betroffenen während der üblichen Geschäftszeit zu betreten, dort Prüfungen und Besichtigungen vorzunehmen und Einsicht in die geschäftlichen Unterlagen zu nehmen. Einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss wie beim Verdacht einer Straftat braucht es nicht. Auch die Landesbauordnungen sehen Betretungsrechte vor. Entsprechende Kontrollbefugnisse finden sich etwa in der Abgabenordnung, dem Gaststättengesetz und dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz – klar, eine effektive Kontrolle wäre ohne entsprechende Befugnisse kaum denkbar.

Gleichzeitig spielen diese rechtlichen und tatsächlichen Spielräume des administrativen Ansatzes einer autoritär-populistischen Regierung in die Karten. Es bestehen wenig Hürden, den ursprünglichen Anlass der Kriminalitätsbekämpfung immer weiter zurücktreten zu lassen. Vor allem, wenn sich autoritär-populistische Parteien nicht darauf beschränken, legale rechtliche Spielräume auszunutzen, sondern mit selektiver Gesetzesanwendung gezielt deren Grenzen überschreiten. Orchestriert aus dem Innenministerium eines Landes könnten die Verwaltungsbehörden unliebsame Gewerbe, Vereine, Organisationen oder gar Einzelpersonen ausmachen und sie mit ständigen Kontrollen, Auflagen und Auskunftspflichten schikanieren.

Schwer justiziables Schikaneverbot

Wann, wo und in welcher Häufigkeit und Intensität solche Kontrolle stattfinden, liegt grundsätzlich im Ermessen der Behörden. Der gesamten Gefahrenabwehr liegt das Opportunitätsprinzip zugrunde: Bereits die Entscheidung, ob die Behörde dafür Maßnahmen ergreifen möchte, trifft sie selbst und kann von Gerichten nur eingeschränkt überprüft werden. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht einer hohen Kontrolldichte und -intensität zunächst nicht entgegen. Nur die allgemeinen Ermessensgrenzen, dass keine sachfremden Erwägungen einfließen dürfen und Willkür und Schikane verboten sind, begrenzen die behördliche Entscheidung.

Schikaneverbot? Die effektive rechtliche Überprüfung solcher Einsätze ist beschränkt, der Gedanke des Staats als Ehrenmann hinterlässt seine Spuren. Die betroffene Ladenbesitzerin kann eine gewerberechtliche Nachschau oder andere Kontrollen nicht vorab verhindern, nur nachträglich deren Rechtswidrigkeit feststellen lassen. Selbst dafür muss sie zunächst nachweisen, dass die Verwaltung ermessensfehlerhaft gehandelt hat. Die Behörde könnte sich dann mit dem Argument rechtfertigen, sie intensiviere allgemein die Kontrolle oder wende schlichtweg das Zufallsprinzip an.

Zwar genügt für eine unzulässige mittelbare Diskriminierung auch, dass Betroffene nachweisen, wegen einem der Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG quantitativ mehr belastet zu werden. Dafür fehlen der betroffenen Person aber in der Regel die Daten. Eine hinreichende Transparenz der Kontrollen und Einsätze, die dafür notwendig wäre, ist schwer zu erreichen: Der Behörde ist daran gelegen, ihre Muster und Strategien möglichst geheim zu halten, um die Effektivität der Kontrollen zu wahren. Und sie dürfte bereits auf praktische wie rechtliche Schwierigkeiten treffen, Daten systematisch und diskriminierungsfrei darüber zu erheben und zu anonymisieren, wann Kontrollen bei welchen Personengruppen stattgefunden haben.

Wer den Masterplan umsetzt – oder nicht

Einer autoritär-populistischen Regierung stünde also das Sammelsurium des besonderen Verwaltungsrechts zur Verfügung, um weitgehend ungestört und geräuschlos die soziale Infrastruktur ihrer politischen Feinde durch Razzien zu gängeln. Sie könnte Supermärkte, Shisha-Bars, politische Vereinigungen, Kulturvereine, Sprachschulen und Bäckereien massiv unter Druck setzen – ganz nach dem Masterplan Ulrich Siegmunds.

Hürden für die autoritären Populist:innen könnten sich dann ergeben, wenn verantwortliche und verantwortungsvolle Mitarbeiter:innen der öffentlichen Verwaltung ihren Bedenken Raum geben, bevor sie dies in die Tat umsetzen. Die Remonstrationspflicht verpflichtet Beamt:innen, Weisungen, die sie für rechtswidrig halten, bei ihrem Vorgesetzten zu beanstanden. Verstoßen diese gegen die Menschenwürde, dürfen und müssen Beamt:innen die Ausführung selbst dann verweigern, wenn die Vorgesetzte die Weisung bestätigt hat.

Der Schutz vor Diskriminierungen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG ist essenzieller Bestandteil der Menschenwürde, wie das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat. Wer im Ordnungsamt oder in der Gewerbeaufsicht an einer Schikaneaktion teilnimmt, verletzt also eine Dienstpflicht.

Namenslisten statt Prävention

Dass sich der administrative Ansatz längst ohne die AfD verselbstständigt hat, zeigt die Praxis der tausend Nadelstiche unter Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul. Er hat (wie auch Berlin) die Strategie zu einer zentralen politischen Taktik gemacht, um die von ihm so bezeichnete „Clankriminalität“ in seinem Bundesland zu bekämpfen. Über die Problematik des Begriffs hat etwa Kilian Wegner bereits geschrieben.

Reuls Praxis füttert diese Kritik: Das Landeskriminalamt von Nordrhein-Westfalen ermittelt die Zielpersonen ihrer „tausend Nadelstiche“ anhand einer Liste von über 100 Nachnamen. Durch den gemeinsamen Nachnamen sieht es das von bundesweiten Polizeigremien für „Clankriminalität“ abgestimmte Definitionsmerkmal der familiären oder ethnischen Verbundenheit als gegeben an. Eine nach ethnischen Kriterien zusammengestellte Nachnamenliste ist also die Grundlage dafür, die „niedrige Einschreitschwelle“ der gesamten Verwaltungsbehörden zu aktivieren. Wer keine Probleme wolle, könne sich ja „eindeutig abgrenzen“, so die Zeitschrift der Gewerkschaft für Polizei.

Das Beispiel zeigt, dass wir uns längst nicht mehr im Bereich zukünftiger Szenarien bewegen. Reuls Taktik geht darüber hinaus, in intransparente Verwaltungsentscheidungen heimlich schikanierende Kriterien einweben zu wollen, die ihm nicht nachgewiesen werden können. Er nutzt die tausend Nadelstiche offensiv zu seiner PR-Inszenierung und dazu, ein ethnisch begründetes und vorurteilsbehaftetes politisches Feindbild zu schaffen. Schon der IMK-Beschluss 2012 hatte eine „einsatzbezogene und anlassunabhängige Presse- und Öffentlichkeitsarbeit“ gefordert, die – so weit zur Abkehr von der Abwehr objektiv bestehender Gefahren – die „subjektive Sicherheitslage“ berücksichtigen solle. Die Behörden sollen rechtsstaatliche Grenzen nicht im Geheimen strapazieren, sondern ihr Vorgehen durch das politische Narrativ der Landesregierung aktiv rechtfertigen.

Fazit

Mit dem administrativen Ansatz ist den autoritären Populist:innen der Nährboden bereitet. Er verschiebt die eigentlichen Zwecke der jeweiligen verwaltungsrechtlichen Disziplin auf den zweiten Rang hinter eine konzertierte exekutive Repression der Betroffenen. Die öffentlichkeitswirksame Begleitung dieser Repression dichtet die vermeintliche Gefahr dazu, aber nicht einzelfall-, sondern gruppenbezogen und ohne die gebotene Rücksicht auf Art. 3 Abs. 3 GG. So gestaltet die Regierung die „herrschenden ethischen Anschauungen“ der öffentlichen Ordnung von oben herab aktiv mit.

Sie braucht dafür keine Generalklausel, sondern nutzt eine Vielzahl alltäglicher Verwaltungsinstrumente. Autoritäre Populist:innen werden sich die Hände reiben, diese Taktik anzuwenden und auszuweiten. Auch abseits von der Bekämpfung organisierter Kriminalität etabliert es sich als politische Praxis auf Landes- und Bundesebene, die jeweils gerade griffbereite verwaltungsrechtliche Disziplin zu instrumentalisieren, wie das vereinsrechtliche Vorgehen gegen linksunten.indymedia und compact oder das brandschutzrechtliche Vorgehen gegen die Baumhäuser der Klimaproteste im Hambacher Forst zeigt.

Behörden und Gerichte täten gut daran, dem entgegenzuwirken und einen schärferen Fokus auf die jeweilige originäre gesetzliche Zielsetzung einzustellen. Denn am einfachsten macht man es den autoritären Populist:innen, wenn sie für die Umsetzung ihrer Strategie gar nichts ändern müssen.

Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.de, CC BY-SA 4.0. Überschrift ergänzt durch Volksverpetzer. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite.

Artikelbild: Kay Nietfeld/dpa