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U18-Wahl: Wurde die Jugend rechter gemacht, als sie ist?

von , | Aug 30, 2024 | Analyse, Demokratischer Herbst

Zunächst einmal ein wichtiger Hinweis: Dass es Formate wie die U18-Wahl gibt, ist ein großer Hoffnungsschimmer für die politische Bildung. Junge Menschen an die Abläufe unseres demokratischen Systems heranzuführen ist ein zentrales Tool, um Politikverdrossenheit vorzubeugen und Menschen zu mündigen Demokrat:innen zu machen. Es geht in der Kritik in diesem Artikel also weder gegen die U18-Wahl selbst, noch gegen die Arbeit der Organisator:innen. Die haben viel Energie hineingesteckt und ihre Arbeit begrüßen wir ausdrücklich! Es geht allein um die mediale Berichterstattung, wie die Wahlergebnisse widergespiegelt und welche Narrative bedient wurden.

Breite Berichterstattung durch bequemes Narrativ

Die Ergebnisse der “U18-Wahl” haben im Vorfeld der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen mal wieder einiges an Aufmerksamkeit erhalten. Die meisten Medien interessierte dabei aber nicht in erster Linie die Möglichkeit für junge Menschen, in demokratische Prozesse hineinzuschnuppern oder der Anreiz, sich vielleicht zum ersten Mal überhaupt mit der Politik zu beschäftigen. Und sie interessierten auch nicht die Sorgen der jungen Menschen. Nein, es drehte sich alles nur um das Ergebnis, genauer gesagt: Einen ziemlich großen blauen Balken im Ergebnis.

Dabei wurde die Wahl aufmerksamkeitsheischend auch mit großen Worten bedacht. “Ernüchterung für Ampel-Parteien” schrieb beispielsweise der Merkur, so als wäre die Regierung abgewählt worden. “AfD bei Sachsens Jugend ganz vorne” titelte die Frankfurter Rundschau und die Sächsische Zeitung berichtet “BSW nicht im Landtag“. Wobei, technisch gesehen stimmt das ja sogar (noch). Aber Spaß beiseite.

Die Berichterstattung eint auf jeden Fall das Entsetzen oder Erstaunen darüber, dass die jungen Leute ja scheinbar so rechts sind. Natürlich werden auch schnell die klassischen Erklärungsmuster herausgeholt, Social Media-Konsum (ganz besonders TikTok!), Protest gegen die Regierung… Wir kennen es schon vom Frühjahr, als die mittlerweile kritischer eingeordnete Studie “Jugend in Deutschland 2024” medial als ultimativer Rechtsruck der Generation TikTok rezipiert wurde. Dabei gäbe es auch diesmal einige Gründe für viele Medien, etwas differenzierter an die Sache heranzugehen. Wir zeigen, warum.

Die U18-Wahl ist keine Wahl

Okay, dieser Kritikpunkt ist wahrscheinlich der offensichtlichste, aber: Die U18-Wahl kann nicht so behandelt werden, wie eine “normale” Wahl (also z.B. die Landtagswahl am Sonntag). Offensichtlich ist es Unsinn, über Koalitionen oder Fünfprozenthürden zu philosopohieren. Es gibt kein zentrales Wahlregister, in dem alle Wahlberechtigten vermerkt sind, die dann rechtzeitig angeschrieben werden. Es gibt keine Behörde, die den Ablauf einer allgemeinen, unmittelbaren, freien und gleichen Wahl kontrollieren würde.

Was allerdings noch viel schwerer ins Gewicht fällt: Die Wahlbeteiligung war sehr niedrig. Also wirklich enorm niedrig, wenn man es ins Verhältnis setzt. Merken wir uns zum Vergleich mal eine Zahl: Bei der Landtagswahl 2014 in Sachsen gab es eine Wahlbeteiligung von 49,1%. Das war die niedrigste Wahlbeteiligung in Sachsen überhaupt und gleichzeitig eine der niedrigsten im wiedervereinigten Deutschland. Wir legen die Latte also nicht sehr hoch.

Wahlbeteiligung U18-Wahl: Höchstens Einstellig

Bei den U18-Wahlen wurden laut U18.org in Sachsen 9.085 Stimmen abgegeben, in Thüringen 2.012. Wie berechnen wir daraus die “Wahlbeteiligung”? Das ist gar nicht so eindeutig und einfach. Da die Wahlen theoretisch allen Menschen unter 18 offen stehen könnten wir sagen: In Sachsen lebten 2023 662.905 Menschen unter 18. Das wäre dann eine Wahlbeteiligung von – 1,37% (analog Thüringen: 0,6%)!

Fairerweise muss man aber einschränken: Dass Babys und Kleinkinder wahrscheinlich eher nicht gewählt haben, sei mal gegönnt. Wahlen fanden vor allem an Schulen statt, also sagen wir, es wären potenziell nur die 412.911 Schüler:innen Sachsens als Ausgangsmasse – dann wäre die Wahlbeteiligung immerhin bei 2,2% gewesen (analog für Thüringen: knapp unter 1%)

Und wenn wir jetzt noch nachsichtiger wären und sagen, nur die 149.076 Menschen zwischen 14 und 17 wären die Zielgruppe gewesen (und das ist schon eine extreme Einschränkung, da es viele Schüler:innen weiterführender Schulen ausschließt), selbst dann wären wir nur bei einer Wahlbeteiligung von 6% (analog für Thüringen: Hier nur die Altersklasse 15-17, also noch enger betrachtet d.h. die Wahlbeteiligung ist noch schmeichelhafter als in der Realität: 2,68%).

Okay, also wenn es wirklich eine Wahl wäre, dann hätte, wer auch immer die Wahl gewinnt, quasi keine demokratische Legitimation. Selbst die Wahlen mit der niedrigsten Beteiligung der jüngeren Geschichte hatten wahrscheinlich eine mindestens zehnfache Wahlbeteiligung. Und das sogar bei einer viel größeren Gruppe an Wahlberechtigten.

Also gut, Wahl fällt schonmal aus. Aber können wir es nicht als Umfrage werten? Für die Sonntagsfrage werden doch sogar noch weniger Leute befragt und da passt es doch auch, dann muss es ja umso mehr repräsentativ sein?! Nein, auch das basiert eher auf einem häufigen Missverständnis davon, wie Repräsentativität funktioniert.

Wie kommen repräsentative Umfragen zustande?

Oft wird fälschlicherweise angenommen, dass für eine repräsentative Umfrage lediglich die Stichprobe groß genug sein muss, also dass möglichst viele Menschen für die Umfrage befragt wurden. Tatsächlich aber hängt die Repräsentativität einer Umfrage weniger von der Anzahl der Befragten als vom verwendeten Auswahlverfahren ab. Sprich: Auch mit weniger befragten Menschen kann eine seriöse Umfrage generiert werden, solange die Teilnehmenden per Zufallsprinzip (Achtung: Nicht dasselbe wie “willkürlich”!) ausgewählt werden. Wie also arbeiten die meisten Wahlumfrageinstitute?

Selbstverständlich können Umfrageinstitute beispielsweise für die Sonntagsfrage nicht jede Woche alle Bundesbürger:innen befragen. Daher also die Notwendigkeit einer Stichprobe: meistens werden zwischen 1.000 und 3.000 Menschen befragt. Damit diese aber einen möglichst repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung darstellen, muss sichergestellt werden, dass möglichst alle Menschen in der Bevölkerung die gleiche Möglichkeit haben, an der Umfrage teilzunehmen. Wenn eine Bevölkerungsgruppe in der Befragung überrepräsentiert ist, kann dies zu systematischen Verzerrungen führen. Man muss diese Ungleichheit auf jeden Fall wieder herausrechnen.

Schauen wir auf ein plastisches Beispiel. Wenn zum Beispiel unter der wahlberechtigten Bevölkerung 30% über 65 Jahre alt sind, dann sollten in der Stichprobe für die Umfrage möglichst auch 30% der Teilnehmenden über 65 Jahre alt sein. Würde man die Umfrage nun z.B. ausschließlich auf gut Glück als Straßenumfrage vor Schulen und Universitäten durchführen, ist es naheliegend, dass man diese Quote wahrscheinlich nicht erreicht. Deswegen heißt “zufällig” hier nicht dasselbe wie “willkürlich”. Ganz im Gegenteil ist gerade die systematische Auswahl der Stichprobe sowie das Berechnen von möglicherweise verzerrenden Effekten enorm wichtig.

Um sicherzustellen, dass die Auswahl per Zufallsprinzip erfolgt, generiert ein Computerprogramm der Umfrageinstitute Telefonnummern (Festnetz und Mobil). Anschließend rufen Mitarbeiter:innen diese Nummern systematisch an. Auch führen die Institute vermehrt Onlineumfragen durch, die aber nicht unumstritten sind.

Deswegen ist die U18-Wahl nicht repräsentativ

Im Fall der U18-Wahl sind also konkret junge Menschen in Wahllokale gegangen und haben dort ihre Abstimmung simuliert. Ergo handelte es sich um eine Abstimmung vor Ort, man müsste also für eine repräsentative Umfrage alle Landtagswahlkreise gleich berücksichtigen. Das kann die U18-Wahl aber nicht leisten. Schauen wir auf die Zahlen in Sachsen: Laut Angaben der Organisatoren gab es in mindestens 10 der 60 Landtagswahlkreise Sachsens gar keine Wahllokale. In einigen weiteren gab es jeweils nur ein einziges.

Für Thüringen liegt keine Auswertung auf Wahlkreisebene vor, aber hier blieben sogar ganze 11 von 22 Landkreisen und kreisfreien Städten komplett ohne Wahllokal. Die Hälfte der Thüringer Landkreise und kreisfreien Städte hatte also kein Wahllokal. Dazu kommt, dass es bei zwei Landkreisen nur “nicht-öffentliche” Wahllokale gab. Auch konzentrierte sich von den 29 Wahllokalen fast die Hälfte allein auf die Städte Erfurt, Weimar und Gera.

Wie schon oben gesagt, das ist ganz explizit keine Kritik an den Organisator:innen der U18-Wahl! Wir wollen damit einfach nur zeigen, dass aufgrund dieser Merkmale (geographisch ungleiche Verteilung und Wahllokale teils nicht öffentlich) keine repräsentative Umfrage zustande kommen kann. Selbst wenn die Anzahl der Befragten auf den ersten Blick “groß genug” wäre.

Warum es zu einem Problem wurde

Okay, könnte man jetzt sagen, Statistik hin, Umfragen her, aber warum müsst ihr das denn ausgerechnet jetzt kritisieren? Und wenn es schon mathematisch nicht passt, ist doch gut, dass es die U18-Wahl gibt, warum immer alles schlecht machen? Nunja, wir wollen nichts schlecht machen. Und wir wollen auch gar nicht leugnen, dass es Probleme mit Rechtsextremismus in der Jugend gibt. Auch und gerade in Sachsen, wie jüngste Berichte aus Zwickau oder die Übergriffe auf Bürger:innen durch die Neonazi-Gruppe “Elblandrevolte” zeigen).

Allerdings wurde die U18-Wahl eben auch medial so diskutiert, als würde sie ein realistisches, repräsentatives Bild über die Meinung “der Jugend” zeigen. Also wer auch immer damit gemeint ist. Aber mal abgesehen davon: Das ist sie halt auch einfach nicht, wie wir ausführlich gezeigt haben. Wenn man mehr über die politischen Positionen junger Menschen herausfinden will, muss man sich eben die Mühe machen und eine repräsentative Studie durchführen. Klar, das ist aufwendig und bringt vielleicht auch Ergebnisse zu Tage, die sich nicht ganz so schön klicken. Denn dann müsste es wahrscheinlich eher um Themen wie Erschöpfung, Hilflosigkeit, psychische Probleme, wirtschaftliche Sorgen oder Angst vor dem Klimawandel gehen. Wie ja genau die Studie “Jugend in Deutschland 2024” schon herausgefunden hat.

Aufmerksamkeitsökonomie in den Medien Teil des Problems

Das Problem im Journalismus ist aber nunmal, dass in weiten Teilen der Branche die Aufmerksamkeitsökonomie regiert. Es wird berichtet, was geklickt wird, selbst in den Öffentlich-Rechtlichen ist diese Tendenz zu beobachten. Und die Schlagzeile “Die Jugend ist Rechts” klickt halt einfach besser als “Junge Menschen sind mit immer mehr Krisen und wirtschaftlichen Problemen überfordert und die Regierung verliert ihr Vertrauen”. Nicht falsch verstehen, die Strategie, mit vielleicht etwas zu reißerischer Schlagzeile Leute auf die Seite zu locken, um dann mit Fakten und Kontext aufzuklären, finden wir ja grundsätzlich gar nicht so schlimm – machen wir bei Volksverpetzer ja mit Ansage auch.

Aber wenn man dann selbst hinter der Clickbait-Schlagzeile die “Wahl”-Ergebnisse nur oberflächlich oder gar nicht einordnet (wie es auch Funk oder MDR Sachsen auf Instagram gemacht haben) und nur auf die Formel “große blaue Balken = Klicks” hofft, dann kommt man schlicht seiner journalistischen Sorgfaltspflicht nicht nach.

Und nein, liebe Funk-Redaktion: Wenn man in der Überschrift fett schreibt “SO WÜRDE DIE JUGEND IN SACHSEN WÄHLEN”, dann hilft ein mini-Text mit Sternchen in der Bildecke, der kleinlaut zugibt, dass die Fakten hinter der Schlagzeile eigentlich keine Fakten sind, auch nicht mehr viel. Die AfD wird es freuen.

Artikelbild: Screenshot https://www.instagram.com/funk/p/C_Nl-7OIleK/?img_index=1