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So realitätsfern ist die AfD: Wir können nicht mehr abschieben

von | Aug 23, 2024 | Analyse, Demokratischer Herbst

Abschiebungen sind ein höchst umstrittenes Thema. Während die AfD sie forciert, fordern auch demokratische Politiker wie Olaf Scholz verstärkte Abschiebungen (wie hier und hier). Diese Rhetorik stärkt jedoch vor allem rechte Parteien. Dieser Artikel analysiert die Abschiebedebatte in Deutschland auf praktischer Ebene und zeigt, warum Forderungen nach mehr Abschiebungen meist populistisch und naiv sind. Denn die Realität ist: Deutschland schöpft seine “Abschiebemöglichkeiten” bereits weitgehend aus. Und die AfD schlachtet das Thema nur zu Wahlkampfzwecken aus, obwohl die Bundesländer bei den anstehenden Wahlen hier gar keine Gesetzgebungskompetenz haben.  

Gerade die Leser:innen, die uns schon länger kennen, wissen, dass wir Abschiebungen oft aus einer moralischen Perspektive kritisieren. Mal davon abgesehen, dass bereits Abschiebungen durchgeführt werden, die illegal sind, wie hier vor kurzem in Sachsen, oder auch immer häufiger das Kirchenasyl gebrochen wird. Hier aber eine Übersicht über 7 ganz pragmatische Wahrheiten, warum der rechte Abschiebe-Wahn naiv und weltfremd ist. Per Link gehts direkt zu den einzelnen Abschnitten:

  1. Lügen über Ausreisepflichtige
  2. Straffällige Ausländer werden bereits abgeschoben, wenn nötig
  3. Ampel übernimmt AfD-Populismus
  4. Wir können nicht einfach Grundgesetz Artikel 1 außer Kraft setzen
  5. Abschiebungen nach Afghanistan erfordern Zusammenarbeit mit Islamisten
  6. Straftäter sollten besser in Deutschland bestraft werden
  7. Sinnlose Abschiebungen sind für alle belastend

Abschiebungen sind selten notwendig

Im Jahr 2023 gab es 1 933 000 Zuzüge und 1 270 000 Fortzüge in Deutschland. Die meisten Menschen kamen aus Europa und Asien. Der Großteil der Migration aus und nach Deutschland läuft dabei geräusch- und problemlos ab. Und praktisch niemand redet darüber, selten erzählen Medien die positiven Migrationsgeschichten.  

Wer nicht mehr in Deutschland bleiben darf, dem wird die Abschiebung angedroht. Es reisen allerdings viel mehr Menschen freiwillig aus, als dann am Ende abgeschoben werden. 

Die deutschen Behörden schieben derzeit wieder etwas mehr ab. Im ersten Quartal dieses Jahres wurden fast 5.000 Menschen abgeschoben, zum Vergleich: im gleichen Zeitraum 2023 wurden etwa 3.500 abgeschoben. Auch auf die Gesamtjahre gerechnet siehst du, dass derzeit wieder mehr abgeschoben wird, im Jahr 2023 waren es 16.430 Personen. Abgeschoben werden aber nicht nur abgelehnte Asylbewerber:innen. Auch andere Personen, die ausreisepflichtig sind, weil deren Aufenthaltstitel abgelaufen sind, z. B. ausländische Studierende, Arbeitnehmer:innen etc., können abgeschoben werden, wenn sie nicht innerhalb einer gesetzten Frist selbst ausreisen. 18.512 abgelehnte Asylbewerber:innen hielten sich Ende Oktober 2023 in Deutschland auf, die unmittelbar ausreisepflichtig und ohne Duldung in Deutschland waren, wie die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (S. 28) schreibt. Im Verhältnis zur Bevölkerung von über 83 Millionen eine verschwindet geringe Zahl. Ein Kollaps des Rechtsstaates, von dem die AfD häufig spricht, ist hier also definitiv nicht beobachtbar. Darauf kommt man nur, wenn man mit den Zahlen trickst:

Screenshot Tagesschau

1. So wird über Ausreisepflichtige gelogen

Das Gesetz ist hier etwas verwirrend, denn “ausreisepflichtig” bedeutet nicht, dass die betroffene Person auch abgeschoben werden kann. Schauen wir auf das Gesamtjahr 2023, so kommen wir auf 242.642 Ausreisepflichtige (Zahlen Ende des Jahres). Davon haben aber 193.972 einen Duldungsstatus, können also nicht abgeschoben werden, aus vielen berechtigten und pragmatischen Gründen, das regelt § 60a des Aufenthaltsgesetzes. Oftmals fehlen beispielsweise Reisedokumente des Herkunftslandes, der häufigste Grund für Duldungen Stand Juni 2023. Diese Menschen könnte auch die AfD nicht abschieben, ohne sich selbst als illegale Schleuser zu betätigen. Denn weder wir noch die AfD wissen, wohin man diese Menschen überhaupt abschieben sollte. Die Ausländerbehörden gehen nur bei 9 % dieser Fälle davon aus, dass die Betroffenen ihre Abschiebung aktiv verhindern wollen.

Screenshot Mediendienst Integration

Bei 58% der insgesamt 250.749 ausreisepflichtigen Personen (Achtung, Zahlen Ende Oktober daher Differenz zum obigen Screenshot) war ein abgelehnter Asylantrag gespeichert. Von diesen lebten wiederum mehr als 87% mit einer Duldung, nur 18.512 Personen ohne eine Duldung. Das geht aus einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung hervor (siehe S. 28). Viel weniger abgelehnte Asylbewerber:innen sind also unmittelbar ausreisepflichtig, als viele Menschen, und leider auch Politiker:innen, denken und propagieren. Prominentes Beispiel war Friedrich Merz mit seinem Zahnarzt-Fail vom letzten Jahr:

Die erste Erkenntnis also: Forderungen nach “Abschiebungen im großen Stil” sind insofern schon mal populistisch, weil es sich gar nicht um so hohe Zahlen handelt, wie oftmals behauptet wird. Gehen wir weiter auf die rechtliche Ebene. Spoiler: mehr Abschiebungen sind auch da kaum möglich, wenn wir nicht das Grundgesetz abschaffen wollen.

Warum Abschiebungen wirklich scheitern

AfD und Co. unterstellen gern bösartige Absichten hinter der Migrationspolitik, weil in ihrem von Verschwörungsmythen geprägten Weltbild immer ein scheinbar “größerer Plan” dahinter stecken muss. In der Praxis ist es allerdings viel unspektakulärer. 

Natürlich werden nicht alle unmittelbar ausreisepflichtigen Personen derzeit abgeschoben, doch das liegt auch daran, dass andere EU-Staaten (wie zum Beispiel Italien und Griechenland) sich oft weigern, Schutzsuchende wieder aufzunehmen, die eigentlich nach der Dublin-III-Verordnung dort einen Asylantrag stellen müssten, wo sie zuerst EU-Boden betreten. Dass dieses Abkommen nur auf dem Papier funktioniert, ist schon seit langem klar, unter anderem weil viele Asylbewerber:innen nicht in Griechenland, Ungarn oder Italien bleiben wollen. Wie der Migrationsexperte Knaus im Tagesspiegel sagt:

„Staaten unter populistischen Regierungen wie Ungarn und Italien haben heute die Strategie, Menschen so schlecht zu behandeln, dass kaum noch jemand einen Asylantrag stellen will. So klinken sie sich praktisch aus dem Dublin-System aus.“

In anderen Fällen scheitern Abschiebungen daran, dass die Betroffenen untergetaucht sind und/oder Identitätspapiere fehlen. Wohin und wie also abschieben, wenn das Heimatland nicht bekannt ist und es keine Papiere gibt? 

Manchmal weigern sich auch Herkunftsstaaten, ihre Staatsbürger:innen zurückzunehmen, manche Personen sind staatenlos. Die Zahlen beweisen es, dass wir nicht mehr abschieben KÖNNEN: obwohl Scholz noch letztes Jahr “Abschiebungen im großen Stil” angekündigt hat, steigen die Zahlen nur auf bescheidenem Niveau. Zwei von drei Abschiebungen scheitern, beispielsweise aus medizinischen Gründen, weil die Person untergetaucht ist, wegen Flugunfähigkeit, weil sich der Pilot/die Pilotin weigert oder wegen erfolgreich eingelegter Rechtsmittel. 

Du siehst: rein praktisch ist es oft kaum möglich, Ausländer:innen abzuschieben. Lediglich bei abgelehnten Asylbewerber:innen beispielsweise aus Georgien und Moldau sehen Expert:innen Möglichkeiten, höhere Abschiebezahlen zu erzielen. 

2. Straffällige Ausländer werden bereits abgeschoben 

Und was ist mit kriminell gewordenen Ausländer:innen? Bei diesen entscheidet eine Einzelfallprüfung, ob es möglich ist, sie abzuschieben, wenn “die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die freiheitliche demokratische Grundordnung” gefährdet ist (AufenthG §53, Abs. 1). Die Behörde muss prüfen, ob das “Bleibeinteresse” oder das “Ausweisungsinteresse” überwiegt. Der Mediendienst Integration schreibt dazu:

“Ein starkes “Ausweisungsinteresse” besteht etwa, wenn Ausländer:innen schwere Straftaten begehen oder terroristischen beziehungsweise verfassungsfeindlichen Organisationen angehören. Auch das persönliche Verhalten kann erschwerend wirken: Ein “Ausweisungsinteresse” kann auch bestehen, wenn die Person Drogen konsumiert oder Angehörige zu einer Zwangsehe genötigt hat. Das “Bleibeinteresse” überwiegt hingegen, wenn die Person lange in Deutschland gelebt hat – oder wenn sie persönliche, familiäre oder wirtschaftliche Bindungen zum Land hat.”

Forderungen nach verstärkten Abschiebungen von kriminellen Asylbewerber:innen sind daher nur ein Köder-Argument. In den Fällen, wo es möglich und sinnvoll ist, werden kriminell gewordene Asylbewerber:innen bereits abgeschoben. Die Entscheidung einer Abschiebung muss aber mit dem Grundgesetz vereinbar sein und per Einzelfallprüfung erfolgen, mehr dazu unten. 

Im Falle der AfD und der Identitären Bewegung wollen diese durch öffentliche Forderungen nach der Ausweisung kriminell gewordener Nicht-Staatsbürger:innen nur ihr wahres Gesicht verstecken, quasi eine Strategie der Selbst-Verharmlosung. Auf dem von Correctiv aufgedeckten Treffen in Potsdam sprach Rechtsextremist Sellner ganz offen über die Vertreibungs- und Deportationspläne. Man plane Lager in Nordafrika, wo man Menschen “hinbewegen” könne. Auch alle, die sich für Geflüchtete einsetzen, könnten dorthin, sagte Sellner. 

Sobald sie in der medialen Öffentlichkeit sind, geben sie sich harmlos und sprechen von der Ausweisung krimineller Nicht-Staatsbürger, wie es in Deutschland sowieso schon Gesetzeslage ist. Eine bestehende Gesetzeslage, die jetzt bereits teils grausam umgesetzt wird

3. Ampel übernimmt AfD-Populismus

Doch nicht nur aus den Reihen der AfD und anderen Rechtsextremen sind derzeit verstärkte Abschiebeforderungen in aller Munde. So zum Beispiel war das Credo der Innenministerkonferenz im Juni, Abschiebungen von schwerkriminellen Asylbewerber:innen und islamistischen “Gefährdern” nach Syrien und Afghanistan ermöglichen zu wollen. Sie sollen über Nachbarländer erfolgen. 

Einer der Auslöser in der Debatte um Abschiebungen war der Tod eines Polizisten in Mannheim, nachdem ein afghanischer Tatverdächtiger mit Messerstichen seinen Kopf verletzt hatte. Die Bundesanwaltschaft geht von einer religiösen Motivation aus. 

Ein anderes Beispiel: Im Fall eines Syrers, der auf subsidiären Schutz geklagt hatte und dessen Klage nun vom OVG NRW abgelehnt wurde, sagte Scholz: „Wer als Schleuser tätig ist, kann auch nach Syrien zurück, selbstverständlich“. Jetzt ist aber ein Schleuser weder ein verurteilter Mörder noch ein Terrorist. 

Und natürlich war da der viel beachtete Satz von Olaf Scholz letztes Jahr: “Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.” Doch das ist bereits das, was in Deutschland geschieht. Wenn ein Asylantrag abgelehnt wird (und eine Klage dagegen erfolglos bleibt), dann greift entweder die Duldung (aus pragmatischen Gründen und meist nicht, weil Deutschland so großzügig ist), die betroffene Person reist aus “freien Stücken” aus oder wird abgeschoben. Für manche Länder gilt darüber hinaus ein Abschiebeverbot

All dies ist gesetzlich geregelt und wird bereits aufs Äußerste ausgereizt, wie eine Vielzahl haarsträubender Abschiebungen beweist, dazu mehr weiter unten. 

4. Menschenwürde gemäß Artikel 1 GG steht über Abschiebung

Nehmen wir nun den Fall des Afghanen, der bereits im Gefängnis sitzt und wegen Mordes an dem Mannheimer Polizisten angeklagt wird (siehe oben). Dem Afghanen wurde bis 2026 ein befristetes Aufenthaltsrecht gewährt, davor wurde ihm Abschiebeschutz wegen lebensbedrohlicher Armut gewährt. 

Und obwohl die Genfer Flüchtlingskonvention sowie das deutsche Aufenthaltsrecht die Möglichkeit vorsehen, Ausländer in Fällen schwerer Straftaten in Länder abzuschieben, in denen ihnen Gefahren für Leib und Leben drohen, greift dennoch die Europäische Menschenrechtskonvention. In der besagt Artikel drei, dass niemand „der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“ darf. Wie Peter Müller, ehemaliger Ministerpräsident des Saarlandes und ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, in der SZ schreibt:

“Auch der Schwerkriminelle ist Träger einer unantastbaren Würde, die zu achten und zu schützen Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist. Besteht das Risiko einer Verletzung der Menschenwürde durch eine Abschiebung, hat diese zu unterbleiben.”

Ob dieses Risiko besteht, muss durch eine Einzelfallprüfung entschieden werden. Und das ist genau der Knackpunkt: Wer nach “Abschiebungen im großen Stil” ruft, impliziert damit, dass Einzelfallprüfungen nicht mehr nötig sind. Eine juristische Vollkatastrophe.

5. Bestrafung in Deutschland oder Kooperation mit Taliban?

Ausländerrechtsexperte Daniel Thym meint im Interview mit dem Spiegel, dass im Fall des Afghanen dennoch eine Abschiebung möglich sein könnte, weil “jedenfalls jungen, gesunden Männern ein Überleben dort [in Afghanistan, Anm. d. Red.] auch möglich ist, ohne dass es Verwandte oder andere Sozialstrukturen gibt, die sie auffangen.” Auch eine Abschiebung über Nachbarländer erachtet er als eine mögliche Option – doch auch hier gilt: Über eine mögliche Abschiebung muss ein Gericht per Einzelfallprüfung entscheiden.

Doch selbst wenn der mutmaßliche Mannheimer Täter nicht abgeschoben würde, bedeutet das nicht, dass er nicht bestraft werden wird. Das wird er, und zwar nach deutschem Recht. Würde er nach Afghanistan abgeschoben werden, müsste man dafür also erstens mit den Taliban kooperieren und möglicherweise Geld direkt in die Taschen der Islamisten zahlen. Das wäre schon mal schlecht. Würde dann eine Abschiebung zustande kommen, würde der Mann nicht nach deutschem Recht bestraft. Das wäre auch schlecht, denn egal, ob die Taliban ihn bestrafen oder nicht, das Ergebnis ist nicht wünschenswert. Wenn er bestraft werden würde von den Taliban, muss man wissen, dass die Scharia-Rechtsprechung der Taliban von Willkür und Grausamkeit kaum zu unterscheiden ist. Es könnte aber auch sein, dass er keine Bestrafung erhält und von den Taliban für seine Tat sogar abgefeiert werden würde. Also auch schlecht. Wie Bundesjustizminister Marco Buschmann sagt:

“Straftäter dürfen nicht damit rechnen können, nach einem Attentat bei uns unbestraft ausgewiesen und dann in ihrem Heimatland für ihre Verbrechen vielleicht sogar noch gefeiert zu werden.”

Pläne zur Abschiebung über Nachbarstaaten wie Pakistan bleiben trotz Möglichkeiten für Loopholes rechtlich ebenfalls zweifelhaft. Grundsätzlich ist es also erstrebenswert, dass kriminell gewordene Asylbewerber:innen definitiv mit der Härte des deutschen Rechtsstaats bestraft werden.

6. Scholz verbreitet Fake über Gerichtsurteil

Auch Scholz’ Begründung nach mehr Abschiebungen von kriminell gewordenen Schutzsuchenden, dass “Deutschlands Sicherheitsinteresse schwerer wiegt als das Schutzinteresse des Täters”, ist rechtlich haltlos. Wie Daniel Thym im Verfassungsblog schreibt:

“Bei Personen mit Asyl- oder Flüchtlingsstatus verlangen die Menschenrechte absoluten Schutz – selbst für Terroristen. Auch die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes und eines Abschiebungsverbots wegen schwerer Leiden richten sich einzig nach der Situation im Herkunftsland, nicht danach, wie sich jemand in der Bundesrepublik verhält.”

Kommen wir zu dem anderen Beispiel, bei dem Scholz ebenfalls sagte, dass eine Abschiebung “selbstverständlich” möglich sei. Es handelt sich um einen Syrer, der in Deutschland schutzberechtigt ist aufgrund eines Abschiebungsverbots. Er klagte auf einen höherwertigen Schutzstatus, nämlich auf subsidiären Schutz. Wegen seiner Aktivität als Schleuser wurde er vom Flüchtlings- oder subsidiären Schutz ausgeschlossen. Seine Klage wurde vom OVG NRW abgewiesen. Das Abschiebungsverbot bleibt dennoch bestehen, der Kläger ist weiter schutzberechtigt. Zu keinem Zeitpunkt ging es bei dem Urteil um eine Abschiebung. Für seine Schleusertätigkeit wurde der Syrer übrigens schon in Österreich bestraft. Wie unsere Kollegen vom Verfassungsblog schreiben

“Die Aussage des Bundeskanzlers, wer als Schleuser tätig sei, könne „selbstverständlich“ auch nach Syrien zurück, entbehrt daher nicht nur einer logischen, sondern auch einer gesetzlichen und, angesichts des im konkreten Fall vergebenen Abschiebungsverbots, einer faktischen Grundlage.”

Obwohl es nachvollziehbar ist, dass Scholz im Fall des Mannheimer Tatverdächtigen eine schnelle Abschiebung einleiten möchte, ist es populistisch, dass er öffentliche Forderungen stellt, die rechtlich auf sehr wackeligen Beinen stehen. Im Falle des syrischen Ex-Schleusers war seine Aussage schlichtweg haltlos. Für eine rationale Debatte über die Herausforderungen im Kontext von Migration sollten sich gerade demokratische Politiker:innen nicht zu populistischer Rhetorik hinreißen lassen.

Auch Straftäter sollten besser bei uns Strafe erhalten

Versteht mich nicht falsch: auch mich macht es wütend, wenn Polizisten von vermeintlich islamistischen Tätern niedergestochen werden. Das muss bestraft werden und das wird es auch. Gleichzeitig haben jetzt viele Afghan:innen Angst um ihren Schutzstatus und zeigen sich der Gewalttat ihres Landsmannes gegenüber entsetzt

Eine direkte Abschiebung ohne vorherige Bestrafung kann nicht die ultimative Lösung sein. Denn es ist doch in jedem Fall besser, wenn Straftäter bei uns nach deutschem Recht bestraft werden und damit sichergestellt ist, dass sie die Härte des Gesetzes trifft.

Eine bittere Wahrheit ist jedoch, dass die rechten Stimmen meist direkt sehr laut werden, wenn eine Person mit Migrationshintergrund eine Straftat begeht. Auch Medien nennen vor allem dann die Herkunft eines Tatverdächtigen, wenn derjenige Ausländer ist. Dabei ist Deutschland, die Gesamtlage betrachtend, ein sehr sicheres Land. Gerade mit erhöhten Zuwandererzahlen der letzten Jahre. Wusstest du zum Beispiel, dass die Zahl ausländischer Tatverdächtiger von Gewaltverbrechen 2023 leicht ZURÜCKgegangen ist? Dass das Verhältnis der Straftaten mit ausländischen Tatverdächtigen im Vergleich zu der ausländischen Wohnbevölkerung im Vergleich zu vor der Pandemie sogar leicht gesunken ist? Wusstest du, dass die Jahre 2017 bis 2022 übrigens die sechs Jahre mit der niedrigsten Anzahl von Straftaten seit der Wiedervereinigung waren?

All das lesen wir nicht häufig. Aber es ist Teil der Realität.

Auch rechte Regierungen holt irgendwann die Realität ein

Nun bin ich mir sicher, dass sich so manche von diesen Fakten, warum wir in Deutschland nicht mehr abschieben können, nicht überzeugen lassen werden. Ganz nach dem Motto “wenn die AfD an der Macht wäre, würde alles besser werden”. Wenn mit “besser” gemeint ist, dass wir das Grundgesetz abschaffen müssten, um all diejenigen auszuweisen, die die AfD nicht mehr in Deutschland haben möchte (siehe Correctiv-Recherche), dann haben wir leider keine gemeinsame Argumentationsgrundlage mehr. Konkret hat Correctiv ein Geheimtreffen von hochrangigen AfD-Politiker:innen, unter anderem dem persönlichen Referenten von Alice Weidel, anderen Neonazis, Werte-Union und Unternehmer:innen enthüllt, das im letzten November in Potsdam stattfand. Darin besprechen die Faschist:innen, wie man Millionen von Menschen deportieren könne und in Lager (!) in Afrika stecken könne. Und zwar auch deutsche Staatsbürger:innen – diejenigen mit „falscher“ Herkunft oder Andersdenkende. Buchstäblich. 

Dass solche Massendeportationen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, liegt auf der Hand. Doch selbst angenommen, die AfD würde sich in einem Szenario, in dem sie an der Regierung ist, an das Grundgesetz halten, dann würde ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit das passieren, was schon vielen unserer rechten Nachbarregierungen passiert ist, wie zum Beispiel Großbritannien, Italien oder Polen.

“the worst of both worlds” mit unmenschlicher abschiebepolitik

Migrationsforscher:innen nennen dies das “illiberale Migrationspolitikparadox”. Werben rechte Politiker:innen noch im Wahlkampf damit, gegen Migration hart vorgehen zu wollen, passiert dann genau das Gegenteil, sobald sie an der Regierung sind. Einfach weil auch sie keine Zauberer:innen sind und die Realität am Ende nun mal jede:n einholt. 

Das Problem ist: Scholz und andere Politiker:innen, die zeigen wollen, wie hart sie gegen Migration vorgehen, erhoffen sich damit, wieder mehr Wählerstimmen zurückzugewinnen, die sie an die AfD verloren haben. Doch tatsächlich erhalten sie (und wir auch) damit nur “the worst of both worlds”: Erstens wird so unmenschliche Politik gemacht und zweitens wird so nicht mal die AfD geschwächt. Denn auf die SPD bezogen zeigen Analysen, dass viele Wähler:innen beispielsweise zu den Grünen abwandern oder zu Nichtwähler:innen werden. Von den Stimmen, die die SPD in den letzten Jahren verloren hat, gingen nur gut 10% an rechtsradikale und rechtsextreme Parteien. 

Sich der AfD rhetorisch sowie politisch anzunähern ist also extrem kontraproduktiv. Enttäuschte Wähler:innen werden sich abwenden und diejenigen, die die AfD wählen, bleiben ohnehin beim “Original”. 

Warum diskutieren wir trotzdem weiter über Abschiebungen?

Du siehst also: Die Debatte um “Abschiebungen im großen Stil” (SPD) oder “Massendeportationen” (AfD) ist eine Scheindebatte. Seitens der AfD ist sie nur ein weiterer Beweis, dass die AfD ihre Wähler:innen anlügt, um an die Macht zu kommen, seitens der SPD (und auch CDU) ist sie ein verzweifelter Versuch, auf den menschenfeindlichen Rhetorik-Zug der AfD aufzuspringen, in der Hoffnung, Wähler:innen zurückzugewinnen. 

Das Ergebnis ist ein “Wettbewerb um die Unmenschlichkeit”, wie es Oxford-Professor Tarik Abou-Chadi formuliert.

Ein Ergebnis, das aber zum Beispiel zu neuen Gesetzen führt, wie beispielsweise das sogenannte “Rückführungsverbesserungsgesetz”, das in seinen wesentlichen Teilen im Februar in Kraft trat. Man könnte es genauso gut “Wir zeigen wie hart wir sein wollen”-Gesetz nennen. Unter anderem wird dadurch jetzt möglich, dass die Höchstdauer des Ausreisegewahrsams von 10 Tagen auf 28 Tage verlängert wird. Ausreisepflichtige dürfen jetzt also anstatt von 10 Tagen ganze 4 Wochen in Haft genommen werden. Die Inhaftierung kann sogar ohne das Vorliegen von Fluchtgefahr gerichtlich angeordnet werden. Zudem dürfen in Gemeinschaftsunterkünften auch die Räume unbeteiligter Dritter betreten werden, zum Auffinden der abzuschiebenden Person. Auch wird das Betreten und Durchsuchen der Wohnung zur Nachtzeit zum Zweck einer Abschiebung vereinfacht. Kurzum: Die ohnehin unmenschlichen Abschiebe-Praktiken werden noch unmenschlicher. 

Und wofür? Die Bundesregierung erwartet sich davon einen Anstieg von 5% der Abschiebezahlen, ca. 600 Personen bundesweit im Jahr. Massive Einschränkungen der Privatsphäre, mehr Gefahren für Traumata – für einen sehr geringen (erhofften!) Anstieg der Abschiebezahlen? Wir sprechen hier von Menschen, die teilweise schon sehr gut integriert sind und in Deutschland arbeiten! Das ist ehrlich gesagt ein Armutszeugnis, beweist aber, wie panisch die Bundesregierung die Zahlen nach oben bringen möchte.

Das kommt dabei heraus, wenn à la AfD regiert wird

Darüber hinaus sammeln sich immer mehr Beispiele von Abschiebungen, die einfach nur noch grausam sind, man kann es nicht anders nennen. Indem die Ampel versucht, à la AfD zu regieren, kommen dann solche Schicksale dabei heraus.

Wie hier zum Beispiel die Abschiebung eines Marokkaners, die gerichtlich verboten wurde, woran sich die zuständige sächsische Behörde aber einfach nicht gehalten hat. Oder wie hier die Abschiebung eines Gambiers, der schon 6 Jahre lang in Deutschland beschäftigt war. Oder einer Person aus Sierra Leone, die sich bereits in einer Ausbildung zum Altenpfleger befand, als sie abgeschoben wurde. 

ProAsyl sammelt jährlich Beispiele von absurden Abschiebungen aus Deutschland, hier kannst du nachlesen. Empfehlenswert ist an dieser Stelle auch der Spiegel-Podcast, der sich dem Thema auf eine sehr menschliche und nahbare Weise annähert, unter anderem einen Blick auf die Perspektive einer Abschiebebeobachterin werfend.

Auch bricht der Staat immer öfter das Kirchenasyl. Laut Recherchen von Netzpolitik im Mai gab es in den vergangenen zehn Monaten mehr Räumungen aus Kirchengebäuden als in den gesamten zehn Jahren davor. Das Kirchenasyl stützt sich nicht auf eine gesetzliche Grundlage, sondern auf eine Vereinbarung zwischen der Katholischen und Evangelischen Kirche und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Durch das Kirchenasyl versuchen Gemeinden zu verhindern, dass Menschen in potenziell lebensgefährliche und menschenunwürdige Situationen abgeschoben werden. Stattdessen soll diesen Personen die Möglichkeit gegeben werden, dass die Behörden ihren Fall erneut prüfen oder sie nach einiger Zeit Asyl in Deutschland beantragen können.

Es wird also versucht, die Abschiebezahlen mit allen Mitteln nach oben zu schrauben. Dann trifft es gerade auch gut integrierte Personen, mit Arbeit/Ausbildung und Meldeadresse, die, weil leichter auffindbar, häufig schneller abgeschoben werden können. Zynisch, aber leider wahr. Wie wir oben gesehen haben, funktioniert das aber trotzdem nur sehr schlecht und unter menschenunwürdigen Bedingungen.  

7. Abschiebungen auch für Polizisten psychisch reine Zumutungen

Doch was machen Abschiebungen psychisch mit denen, die sie durchführen müssen? Also mit den ganzen Polizist:innen der Bundesländer, für die Abschiebungen Teil ihrer Dienstpflicht sind? Dazu veröffentlichte im Dezember 2023 die “Zeit” eine ausführliche Recherche. Das Fazit: NATÜRLICH macht das etwas mit den Polizist:innen, schutzsuchende Menschen abschieben, in Asylbewerber:innenunterkünfte eindringen und Menschen gegen ihren Willen mitnehmen zu müssen. Manche Ausreisepflichtige fügen sich selbst schwere Verletzungen zu, um einer Abschiebung zu entkommen.

So zum Beispiel beschreibt ein Polizist, der keine Abschiebungen mehr durchführen möchte:

“Wenn ich vor der Tür stehe in der Flüchtlingsunterkunft oder am Arbeitsplatz, muss ich zwei Sekunden Luft holen. Reinzugehen kostet mich Überwindung. Dann gebe ich mir einen Schubs und funktioniere.

Ich hole die Personen mit dem Streifenwagen ab. In den vergangenen zwei Jahren musste ich häufig Menschen direkt vom Job mitnehmen. Ich frage mich dann, wieso man jemanden abschiebt, obwohl er arbeitet, eine Wohnung hat, gut Deutsch spricht. Die Bundesregierung will Facharbeiter und Pflegepersonal, aber ich setze ständig Leute in den Wagen, die genau das machen. Ich werde dann wütend auf die Behörde, die die Abschiebung beantragt. Die weiß ja, was die Leute machen. Das steht im Abschiebeauftrag.”

Oder dieser Polizist:

“Wenn du als Polizeibeamter in diesen Wohnungen stehst, machst du dir schon deine Gedanken. Die Menschen sind integriert, im Vereinsleben, in der Schule angekommen. Ich frage mich, was erwartet sie in ihren Heimatländern? Mein subjektiver Eindruck: Wir nehmen lieber einen, den wir sicher kriegen, damit die Zahlen stimmen. Sehr oft schieben wir einfach die Falschen ab. Wenn ich auf jemanden warten muss, der vom Spätdienst kommt, denke ich, das sind doch genau die Arbeiter, die wir hier brauchen. Der arbeitet irgendwo knapp über Mindestlohn. Warum gibt es für ihn keine Möglichkeit zu bleiben?”

Fazit: Forderungen nach Abschiebungen realitätsfern

Wir können de facto nicht mehr abschieben. Aus den verschiedensten rechtlichen und rein praktischen Gründen, die wir oben besprochen haben. Die AfD belügt dich, wenn sie sagt, dass einfach viel mehr abgeschoben werden kann. Denn es GEHT nicht, wenn wir weiterhin in einem Staat mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung leben wollen. Natürlich weiß das auch die AfD. Doch sie will dich manipulieren und weiter Hass gegen Ausländer:innen schüren. Und auch davon ablenken, dass sie selbst kriminell ist. 

Unsere Abschiebepraxis ist eh schon richtig unmenschlich und teilweise illegal – mehr geht nicht –  außer wir richten uns gegen die Verfassung. 

Glücklicherweise gab es in letzter Zeit aber auch Beispiele, durch die klar wurde, dass der Einsatz der Zivilgesellschaft gegen Abschiebungen etwas bewirken kann. Wie in Hamburg, als mehr als 100.000 Menschen Unterschriften gegen die Abschiebung eines 18-jährigen Ghanaer sammelten. Schlussendlich darf er bleiben. Oder die Verhinderung der Abschiebung einer 17-jährigen Kurdin und ihrer Großmutter. Gegen die Abschiebung hatten Aktivist:innen und Politiker:innen gekämpft. 

Klar ist aber auch: Es kann nicht sein, dass es die Zivilbevölkerung sein muss, die sich mit Herzblut und in ihrer Freizeit für Menschenrechte einsetzt. Denn es sollte der Staat sein, der Menschenrechte schützt und sie nicht mit Füßen tritt.

Hinweis der Redaktion: Teile dieses Artikels wurden mithilfe künstlicher Intelligenz erstellt. 

Artikelbild: canva.com